Beslan: Der Wendepunkt
Das Motto der heutigen russischen Innen- und Außenpolitik lautet „Alles ist erlaubt“. Es ist erlaubt, Menschen ins Gesicht zu lügen. Es ist erlaubt, Soldaten ins Nachbarland zu schicken und dann so zu tun, also gäbe es sie an dem Ort, an den man sie selbst geschickt hat, gar nicht. Es ist erlaubt, mittels Propaganda die niedersten Instinkte der Menschen zu wecken und zu behaupten, dies sei Patriotismus. Es ist erlaubt, dies mit dem Wohlergehen der eigenen und mit dem Leben anderer Bürger zu bezahlen. Und zu wissen: Die Gesellschaft nimmt es hin.
Aber das alles hat nicht erst gestern oder vorgestern angefangen. Der Wendepunkt war die Tragödie von Beslan, die sich vor genau zehn Jahren ereignet hatte: Am 1. September 2004 wurden mehr als 1.000 Menschen, die meisten davon Kinder, in der nordossetischen Stadt Beslan von tschetschenischen Terroristen als Geiseln genommen. Dies geschah in der örtlichen „Schule Nummer 1“.
Das ganze Land, und auch die Welt, stand erstmal unter Schock. In Russland hatte es zuvor bereits hunderte blutiger Terroranschläge gegeben, bei denen ebenfalls Geiseln genommen worden waren. Aber erstmals in der Geschichte des Landes und der Welt waren unter den Geiseln auch hunderte Kinder.
Die Kinder finden sich zwischen den Fronten wieder
Nichts geht über das Leben eines Kindes. Und so schien es in den ersten Stunden nach der Geiselnahme, als würden zugunsten der Befreiung der Kinder alle sonstigen Prinzipien und politischen Erwägungen und Zweckmäßigkeiten über Bord geworfen, als würden alle möglichen und unmöglichen Hebel in Bewegung gesetzt.
Aber das ist nicht passiert. Stattdessen fanden sich die Schüler von Beslan plötzlich zwischen zwei Fronten wieder: Zwischen Terroristen, die bereit waren die Kinder zu erschießen, um einen Truppenrückzug aus Tschetschenien zu erreichen, und zwischen dem Staat, der bereit war diese Kinder zugunsten seiner Truppen zu opfern.
Noch am ersten Tag hatten die Terroristen einen Zettel übergeben, auf dem sie Verhandlungen mit dem ehemaligen Innenminister Ruschajlo, dem ossetischen Präsidenten Dsasochow und dem inguschischen Präsidenten Sjassikow forderten. Doch keiner dieser Männer tauchte zu irgendwelchen Verhandlungen in der Schule auf. Schließlich übergaben die Terroristen einen zweiten Zettel mit Forderungen, von denen der Truppenrückzug die wichtigste war. Auch diese Forderungen wurden nie zum Gegenstand von Verhandlungen.
Angriff statt Verhandlungen
Die Terroristen würden keine Bedingungen stellen, informierte das Staatsfernsehen stattdessen zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt des zweiten Zettels in Beslan bereits bekannt war. Die Mütter schrien in die Fernsehkameras „Gebt ihnen in allem nach, rettet unsere Kinder!“ Und auf den Bildschirmen der staatlichen Fernsehsender erschien die zweite nach unten korrigierte Zahl der Geiseln: 354. Tatsächlich waren es 1.128.
Am dritten Tag verloren einige Kinder das Bewusstsein, während draußen ein Arzt den Eltern sagte, die Kinder seien in der Lage acht bis neun Tage ohne Essen und Trinken zu überleben.
Und dann begann der Angriff. Zwei Explosionen waren zu hören, die Terroristen eröffneten das Feuer auf die Geiseln und Spezialeinsatzkräfte stürmten in das Gebäude. 334 Menschen, darunter 186 Kinder, kamen dabei ums Leben.
Wladimir Putin verweigerte Verhandlungen, als das Leben hunderter Kinder auf dem Spiel stand. Kinder, nicht Erwachsener. Klar, Regierungen haben unterschiedliche Praktiken, was Verhandlungen mit Terroristen angeht. Aber ich glaube, jede Regierung eines westlichen Landes hätte sich darauf eingelassen in einer Situation wie dieser, in der eine Schule eingenommen wurde und unter den Geiseln Kinder sind – vom Säugling bis zum Teenager. Weil es eine Frage der Ethik ist. Außerdem hätte die Gesellschaft von der Regierung verlangt, solche Verhandlungen aufzunehmen. In Russland gab es, außer in Beslan, keine einzige Massendemonstration mit der Forderung, Gespräche aufzunehmen.
Eliten und Gesellschaft lernen eine wichtige Lektion
Jede beliebige Regierung, die nicht alles versucht hätte, um Kinder auf friedlichem Weg zu befreien, hätte zurücktreten müssen. In Russland dagegen musste nach Beslan nicht ein einziger Verantwortlicher auf nationaler Ebene sein Amt abgeben.
Wie ist das möglich? Der zweite Tschetschenienkrieg hatte den Ruf nach einer starken Führung geweckt. Unabhängige Fernsehsender wurden dicht gemacht. Bei den Wahlen 2003 kamen keine wirklichen Oppositionsparteien ins Parlament – und sie bekamen seither nie mehr den nötigen Prozentsatz an Stimmen.
Die Ereignisse in Beslan zeigten der russischen Elite und dem Präsidenten, wie wenig ihre Handlungen kontrolliert werden und wie viel die Wähler ihnen nachsehen. Auch die Gesellschaft lernte ihre Lektion: Nichts und niemand kann die Regierung bei der Verfolgung ihrer Interessen aufhalten. Sie geht sogar über Kinderleichen, wenn es unumgänglich erscheint. Diese Lektion hat jeder verinnerlicht.
Eine Zone des Schweigens entsteht
Nur ein Jahr nach dem Terroranschlag fand in Moskau eine Gedenkveranstaltung statt unter dem Motto „Ohne Worte“. Über den Roten Platz marschierte man mit einer schwarzen Fahne, auf der „Ohne Worte“ geschrieben stand, und junge Leute der regierungsnahen Jugendorganisation „Naschi“ (Die Unsrigen) standen in schwarzen T-Shirts mit der gleichen Aufschrift auf einem anderen Platz im Zentrum Moskaus. Es schlug eine Glocke und alle schwiegen.
Einige Eltern, deren Kinder getötet worden waren, hatten sich in der Vereinigung „Stimme Beslans“ zusammengetan und schrieben zur gleichen Zeit: „Wir sind gezwungen in einem Land zu leben, wo die Staatsanwaltschaft lügt und Gesetzesbrüche begeht, wo Beamte falsches Zeugnis geben vor Gericht und selbst der Präsident am Gedenktag öffentlich die Mütter und Väter der ums Leben gekommenen und der verletzten Kinder hintergeht. Die Lüge aufrecht zu erhalten, es seien 354 Geiseln gewesen, das ist die Entscheidung unseres Präsidenten. Ihm fällt es leichter, seine Ignoranz zu zeigen, als seine Sicherheitskräfte für ihre totale Inkompetenz und Korruptheit zu bestrafen.“
Doch vor die Wahl gestellt zwischen diese „Stimme“ und das Motto „Ohne Worte“ wählte das Land das Motto: das Schweigen. Recherchen von Journalisten, Untersuchungen unabhängiger Expertenkommissionen interessierten keinen. Forderungen, die von offizieller Seite getätigten Schritte zu untersuchen und zu bewerten, ob wirklich alles zur Rettung der Kinder getan worden war, verhallten in der Gesellschaft ungehört. Doch die oben zitierte Verlautbarung der „Stimme Beslans“ wurde in die nationale „Liste extremistischer Materialien“ aufgenommen.
"Macht mit uns oder in unserem Namen, was immer ihr mögt."
Um die Tragödie von Beslan entstand eine Zone des Schweigens. Die Trauer und der Respekt vor den Toten dient als Erklärung dafür, warum man keine Fragen zu stellen hat. Das Gedenken an die Toten dient als Entschuldigung dafür, die Überlebenden zu vergessen, die darauf brennen, endlich die wahre Antwort zu erfahren auf ihre Frage: Wie konnte das passieren?
Das alles geschah vor zehn Jahren. Deshalb braucht man sich nicht über das zu wundern, was heute passiert. Die Gesellschaft hat der Regierung schon vor langer Zeit die Carte Blanche gegeben: „Macht mit uns oder in unserem Namen, was immer ihr mögt“. Nämlich damals, als das Land nicht mal für das Leben seiner eigenen Kinder eintrat.
Aus dem Russischen übersetzt von Tamina Kutscher