Der Ring um Donezk schließt sich
Hoch über Marinka weht die ukrainische Flagge. Vor genau einer Woche, am vergangenen Dienstag, hat das Bataillon „Asow“ die zehntausend Einwohner zählende Ortschaft vor den Toren von Donzek eingenommen. „Wir sind in Donezk angelangt“, vermeldeten die Kämpfer der ukrainischen Freiwilligentruppe damals stolz im Internet. Doch das war dick aufgetragen: Die Armee steht in Marinka und anderswo noch immer vor den Toren der ostukrainischen Metropole.
Die prorussischen Kämpfer, die seit Mitte April in Marinka das Sagen gehabt hatten, mussten den Ort zwischen ausgedehnten Sonnenblumenfeldern zwar aufgeben – jedoch nicht ohne ihre militärische Kraft noch einmal zu demonstrieren: Mehrere Wohnblöcke entlang der Hauptstraße sind ausgebrannt, der Amtssitz der Bürgermeisterin ist zerstört, zersplittertes Glas bedeckt die Gehwege, Granatsplitter und Raketenteile erinnern an den Kampf. Marinka ist eine Geisterstadt, zwei Drittel der Bürger sind geflohen. Doch die Front verläuft heute hinter Marinka.
Das Gebiet der „Donezker Volksrepublik“ schrumpft zusehends
Die ukrainische Armee hat ihren Ring um die Donbass-Metropole Donezk geschlossen. Nicht nur in Marinka ist sie bis an die Stadtgrenze herangerückt. Die Separatisten sind in der Defensive. Sie mussten ihre Checkpoints abziehen. An der südlichen Stadtausfahrt in Richtung Mariupol steht die Armee fünf Kilometer hinter dem letzten Checkpoint der „Donezker Volksrepublik“ – eine Bezeichnung, die angesichts des schrumpfenden Territoriums zunehmend absurd wirkt. Kampfpanzer und zwei Haubitzen haben ihre Zielfernrohre in Richtung Donezk gerichtet. In den Asphalt haben sich die Sprengköpfe von Grad-Raketen gebohrt.
Der Beschuss auf die Stadt ist seit dem Wochenende intensiver geworden. Am Sonntag wurde Donezk beinahe ununterbrochen mit Granaten und Raketen traktiert. Ein Geschoss schlug am späten Sonntagabend in ein Hochsicherheitsgefängnis im Westen der Stadt ein. Hundert Insassen gelang die Flucht, allerdings sollen 34 wieder zurückgekehrt sein, wie die Gefängnisleitung meldete. Die Armee machte die prorussischen Verbände für den Angriff verantwortlich.
Auch vom Norden her – das ukrainische Militär kontrolliert den dort gelegenen Flughafen – schlugen Granaten auf Donezk ein. Mehrere Transformatorenanlagen wurden zerstört. Am Montagnachmittag waren nach einem ruhigen Vormittag erneut Detonationen zu hören.
„Letzte Etappe für die Befreiung von Donezk“
Die Armee setzt auf eine Einkreistaktik, in Donezk ebenso wie in den Städten Horliwka und Luhansk. Die Versorgung mit Kämpfern und Waffen von russischem Territorium aus soll abgeschnitten, die politische Führung demoralisiert werden. Militärsprecher Andrij Lysenko erklärte am Montag, dass die Armee „die letzte Etappe für die Befreiung von Donezk“ vorbereite. „Unsere Kräfte haben Donezk komplett von Luhansk abgetrennt. Wir arbeiten daran, beide Städte zu befreien. Aber es ist besser, mit Donezk zu beginnen, da es strategisch wichtiger ist.“ Lysenko gab zudem bekannt, dass seit dem Beginn des Militäreinsatzes in der Ostukraine 568 Soldaten getötet und 2.120 verwundet wurden.
Im Hauptquartier der Separatisten, der besetzten Gebietsverwaltung im Stadtzentrum, gab sich der neu ernannte Premierminister der Donezker Republik Alexander Sachartschenko unnachgiebig. Auf einer Pressekonferenz am Montag kündigte er eine Gegenoffensive der prorussischen Kämpfer in den nächsten zwei bis drei Tagen an. Details wollte er keine nennen.
Tags zuvor hatte Separatistenführer Sachartschenko noch von der Notwendigkeit einer „beidseitigen Waffenruhe“ gesprochen, um eine humanitäre Katastrophe in der Region Donbass zu verhindern. Doch die Kräfte der ukrainischen „Antiterroroperation“ gingen darauf nicht ein. Sie verlangen die Kapitulation der Separatisten.
Nur raus aus der Stadt: Lange Schlangen an den Busstationen
Angesichts der Belagerung haben viele Bewohner Donezk in den letzten Tagen verlassen. An Busstationen und am Bahnhof bilden sich lange Schlangen. Privatautos fahren kaum mehr auf den Straßen. Hin und wieder sind Passanten zu sehen, die sich in einem der wenigen offenen Geschäfte und Märkte mit Lebensmitteln eindecken. Sogar die Filiale der russischen Sberbank machte am Montag in Donezk dicht. Gegen Abend leeren sich die Straßen vollständig, ab 23 Uhr gilt eine Ausgangssperre.
Vor den Toren von Donezk, in Marinka, hat das Bataillon „Asow“ den Bewohnern zur „Befreiung“ gratuliert. Doch die wenigen verbliebenen Bürger sind skeptisch, was ihre neu gewonnene Freiheit angeht. Es gibt keinen Strom und kein Gas, aus der Ferne sind Schüsse zu hören, die Front ist nahe. Wird die Armee weiter an Territorium gewinnen? Sind die letzten Tage der „Volksrepublik Donezk“ angebrochen? Iwan Nikolaewitsch, der 72-jährige frühere Vorsitzende des Stadtrates, antwortet auf diese Fragen mit einem vielsagenden Sprichwort: „Wie der Blinde schon sagt: Schauen wir mal.“