Russland

Wo Bären durchs Stadtzentrum streunen

Rostow-am-Don (n-ost). Wenn Russen in Deutschland in öffentlichen Verkehrsmitteln reisen, dann stöhnt schon mal ein Pensionär mit ungeschultem Gehör „Oh, diese Polen sind doch überall!“. Oder: Eine russische Studentin muss sich die Frage eines deutschen Kommilitonen gefallen lassen, ob dort, wo sie lebt, auch Bären durch die Straßen streunen? Es braucht dann schon Geduld, dem Unwissenden zu erklären, dass dies in einer russischen Millionenstadt natürlich noch nie vorgekommen ist, dass ein solches Treffen selbst in der Taiga Erlebniswert hätte. Und dass eben solche sibirischen Naturreservate einige Tausend Kilometer entfernt sind von den großen, bekannten Zentren des Landes, vielleicht genauso weit, wie Berlin von New York.
Umgekehrt glaubte ein junger Kaliningrader lange Zeit, das Typische an einem Deutschen sei, dass er mindestens über 60 Jahre alt ist und in unbeholfenem Sportdress samt umgehängter Kamera im Luxusbus die Welt bereist: „Ich war noch nie in Deutschland gewesen und es schien mir, als müssten alle Deutschen wohl so sein“, dachte Alexander Sologubow, als Anfang der Neunziger endlose Kolonnen deutscher Reisebusse samt ehemals vertriebenen Insassen in Kaliningrad Stopp machten.

Deutsche und Russen schildern Vorstellungen und Eindrücke des jeweils anderen Landes. Dabei entstehen „Russlandbilder - Deutschlandbilder“, so auch der Titel des soeben erschienenen Essaybandes, herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung, die nunmehr seit 1997 den deutsch-russischen Austausch, insbesondere von Akademikern, fördert. Professoren, Studenten, Praktikanten und Lektoren und einige Journalisten erzählen, dass es sie noch gibt: Unwissenheit, Ängste und Schablonen. Aufschlussreich sind dafür auch die Schnappschüsse der Besucher des zunächst fremden Landes, die viel über die Optik der Autoren verraten. Es bleibt dabei: Matrjoschkas, die obligatorischen Fuhrwerke in endloser sibirischer Weite oder improvisierte Wohncontainer als Beispiel für das Leben der Russlanddeutschen im Dschungel russischer Raubtierkapitalisten dokumentieren das Russlandbild, aufgenommen zu Beginn des dritten Jahrtausends. Ja! So sieht es aus in Russland - aber wäre das russische Leben so schnell erzählt, gäbe es vermutlich keine Überraschungen für den real existierenden deutschen Vor-Ort-Betrachter.

Fotografien aus Deutschland gibt es übrigens keine. Dabei wäre es doch für den deutschen Leser ähnlich spannend, das eigene Land durch die Linse eines Russen zu betrachten. Wie würden sie aussehen - die „Deutschlandbilder“, aufgenommen von stark vorbelasteten russischen Besuchern? Arbeiter, die in staubfreien deutschen Produktionsstätten, die im Schweiße ihres Angesichts gerade Luxuskarosserien zusammenschweißen? Oder ebenso hygienisch gepflegte Einkaufsstraßen, die ein Überangebot des westlichen Wohlstandes zur Schau stellen? Das wäre deprimierend - aber konsequent, folgte man der Logik jener deutschen Perspektive, die nur in Ansätzen Abschied nehmen kann von liebgewonnenen Vorstellungen über das russische Riesenreich. Modernisierungsprozesse der vergangenen Dekade fallen jedenfalls in den Abbildungen gleich ganz unter den Tisch, die Texte schaffen es, eine sehr viel differenziertere Welt zu beschreiben: Gerade die Widersprüche eines um Entwicklung kämpfenden Landes, die Hoffnungen und Träume der Jungen, die regionalen Unterschiede machen es ja so kompliziert, Russland zu charakterisieren.

Schon im Vorwort fragt die ehemalige, langjährige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „Woran liegt es, dass Bild und Gegenstand nicht übereinstimmen? Kein Interesse? Böse Absicht? Gedankenlosigkeit? Ideologischer Ballast?“ Es gibt nicht die Erklärung dafür, warum die Kluft zwischen Imagination und Wirklichkeit noch immer von Vorurteilen bestimmt wird. Fakt ist, Vorurteile gibt es viele, sie sind langlebig und populär. Natürlich fasziniert gerade das jeweils Andere an fremden Kulturen. Das Bedürfnis des ständigen Vergleiches mit seiner Umgebung ist ja eine wesentliche Charaktereigenschaft des Menschen. Unterschiede sind schnell gefunden, werden stilisiert und ergeben durch eine verallgemeinerte Anwendung hartnäckige Klischees. Gemeinsames hingegen ist oft weniger von Interesse. Vielleicht ein weiterer typischer menschlicher Zug: das Spektakuläre, das Ungewöhnliche, das Negative zum eigenen Trost den anderen zuzuschreiben. Das Buch macht den Versuch, eine gedankliche Welt gründlich auf den Kopf zu stellen. Erst längere Reisen, Studien- oder Arbeitsaufenthalte eröffneten den Autoren neue Perspektiven: Nicht alle Russen zuckeln Wodka trinkend auf dem Pferdewagen durch beinahe unberührte Schneelandschaften und auch in Deutschland leben Menschen, die jünger sind als jene oft gesichteten Pensionäre!
Russlandbilder-Deutschlandbilder. Mit einem Vorwort von Gabriele Krone-Schmalz
Hohenheim Verlag, Stuttgart 2003, Preis ca. 15 Euro, ISBN 3-89850-101-9

Ende

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