EU-Sanktionen verunsichern Russland nicht
Die Meldungen waren wieder einmal widersprüchlich am Dienstagmorgen: Präsident Wladimir Putin habe in Telefonaten mit Merkel, Hollande und Poroschenko Bereitschaft zur Deeskalation gezeigt und schärfere Sanktionen des Westens abgewendet. So konnte es lesen, wer in Moskau vor der morgendlichen U-Bahnfahrt am Automaten die Wirtschaftszeitung „Kommersant“ gekauft hatte.
Aktueller informiert war, wer das kostenlose WLAN-Netz der Metro nutzte und zu diesem Zeitpunkt bereits von der Aufkündigung der Waffenruhe in der Ostukraine durch Präsident Petro Poroschenko lesen konnte. Wenige Stunden später hieß es aus Brüssel, die 28 EU-Botschafter hätten Experten mit der Ausarbeitung von neuen Einreiseverboten und Kontensperrungen beauftragt, weil Russland vier Forderungen nicht erfüllt habe, etwa eine wirksame Kontrolle der Grenze zur Ukraine.
Sanktionen beunruhigen weniger als die Hälfte der Russen
Der Großteil der Fahrgäste im Moskauer Berufsverkehr zog am Dienstagmorgen allerdings Musik aus dem Kopfhörer vor und beschäftigte sich nicht mit den möglichen neuen Strafmaßnahmen des Westens. Tatsächlich geht die russische Bevölkerung Umfragen zufolge mit dem Thema relativ gelassen um. Hatten sich Anfang März dieses Jahres noch 53 Prozent der befragten Russen besorgt oder sehr besorgt gezeigt angesichts politischer und wirtschaftlicher Sanktionen, waren es im Mai nur noch 42 Prozent, so eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum.
Das passt zur optimistischen Gesamtstimmung nach dem Anschluss der Krim an Russland: Im März glaubten bereits 73 Prozent der Befragten, dieser werde für Russland ausschließlich oder hauptsächlich positive politische und wirtschaftliche Folgen haben, im Mai waren es sogar 79 Prozent.
Wirtschaftminister Uljukajew: Entwicklung „nicht dramatisch“
Auch Russlands Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew bemüht sich, Optimismus zu verbreiten: In einem Fernsehinterview erklärte er, die russische Wirtschaft sei auch auf härteste Sanktionen seitens des Westens vorbereitet und würde diese überstehen. Die Entwicklung der Dinge, so der Minister, sei insgesamt „nicht dramatisch“.
So waren auch 63 Prozent der Befragten laut Lewada-Zentrum im Mai überzeugt, westliche Sanktionen würden nur einen kleinen Kreis von Personen betreffen, die verantwortlich für die russische Ukraine-Politik sind. Beinahe jeder Vierte ging allerdings davon aus, breite Schichten der Bevölkerung könnten betroffen sein.
Die konkreteste Auswirkung der Sanktionen auf das Leben zahlreicher russischer Bürger war im März die kurzzeitige Sperrung von Kreditkarten der Gesellschaften Visa und Mastercard, die von bestimmten russischen Banken ausgegeben wurden. Das russische Parlament reagierte mit einem Gesetz, das Strafzahlungen vorsieht, wenn Kreditkartengesellschaften einseitig die Bedienung russischer Kunden verweigern.
Beunruhigung unter jenen, die nach Europa reisen wollen
Drei von zehn Befragten fürchteten in der Lewada-Studie Hindernisse bei Reisen in die Westen. Und so ist die Verunsicherung paradoxerweise besonders groß bei denen, die es am meisten nach Europa zieht: So etwa bei der Promotionsstudentin, die in wenigen Wochen ihre Stelle in Holland antreten will und nicht weiß, ob sie angesichts der Reisebeschränkungen ihr Visum rechtzeitig erhalten wird. Und an Moskaus Flaniermeile Arbat berichtet ein Passant, seinen letzten Urlaub gerne in Deutschland verbracht zu haben – ob er in Kürze wieder ein Schengen-Visum erhalte, sei angesichts der politischen Entwicklungen unsicher.
Europäische Diplomaten beteuern derweil, an der Visabearbeitung für Normalbürger, die nicht auf der Sanktionsliste der EU stehen, habe sich nichts geändert.