Den Maidan verstehen
Demonstranten diskutieren auf einem improvisierten Matratzenlager im Kiewer Rathaus, andere wärmen sich am Feuer vor ihren Zelten: Die Fotos in dem Band „Euromaidan – Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ wirken bereits wie aus einer anderen Zeit. Ist es wirklich erst wenige Monate her, dass Hunderttausende gegen Viktor Janukowitsch ausharrten, und dass Kiew zum Schauplatz einer blutigen Revolution wurde?
Mittlerweile ist die Lage unübersichtlicher denn je. Wie geht es den Menschen in der Ostukraine, aus der mittlerweile die meisten deutschen Reporter abgezogen sind? Welchen Berichten kann man angesichts von Propaganda und Manipulation überhaupt noch trauen? Was steckt hinter Russlands neoimperialistischer Politik, wie soll sich Europa verhalten?
Notwehr gegen Korruption und Käuflichkeit
Die Themen Verschleierung und Verunsicherung ziehen sich auch als roter Faden durch das Buch „Euromaidan – was in der Ukraine auf dem Spiel steht“. Die Autoren – Journalisten, Schriftsteller, Wissenschaftler – beschreiben ihre Erlebnisse auf dem Maidan, erklären die Funktionsweisen der Propaganda und analysieren die Interessenslagen hinter dem Konflikt. Das Buch gibt den Ereignissen der vergangenen Monate eine Struktur.
„Nichts war so, wie es schien“, schildert die Kiewer Publizistin Kateryna Mishchenko ihre Eindrücke vom Maidan. In ihrem Essay geht es um die massive Korruption und Verschleierungstaktiken unter Janukowitsch. Geheimdienstler schwenkten plötzlich Ukraine-Flaggen, von der Regierung bezahlte Schauspieler diskreditierten mit einer falschen Pride-Parade die Protestbewegung. Auch die von der Regierung gesteuerten Medien „dehumanisierten ihre Leser genauso wie die Menschen, die auf dem Maidan protestierten“.
Der Maidan war deshalb in erster Linie ein Gegenentwurf zu diesem System der Lüge und Propaganda, eine existenzielle Notwehr gegen Korruption und Käuflichkeit. Am deutlichsten formuliert dies die in Berlin lebende Schriftstellerin Katja Petrowskaja: Die Demonstranten seien nicht in erster Linie für politische Ziele auf den Maidan gegangen, sondern weil es keine andere Möglichkeit mehr gab, weiterzuleben. Die Ukrainer hätten demonstriert „für ihre eigene Würde, um nicht mit Scham auf einander zu schauen, aus dem Bedürfnis, einfach Mensch bleiben zu wollen“.
Der Rechte Sektor als Attrappe
Verschleierung und „virtuelle Politik“ als Mittel des Machterhalts analysiert auch der in Sewastopol geborene und in England lebende Wissenschaftler Anton Shekhovtsov. Mit sogenannten „Partei-Attrappen“ versuchten ukrainische Regierungen bereits vor Janukowitsch, der eigentlichen Opposition Stimmen zu entziehen. Eine dieser Partei-Attrappen und damit ein Verbündeter der Janukowtisch-Regierung war auch der „Rechte Sektor“. Dessen rasanter Aufstieg während der Revolution und die plötzliche Medienpräsenz der Rechten seien bloße Konstrukte gewesen, um den Maidan in ein schlechtes Licht zu rücken, schreibt Shekhovtsov.
Dass die äußerste Rechte durch ihre Gewaltbereitschaft eine tragende Rolle bei der Revolution spielte, bestreitet auch der Osteuropahistoriker Timothy Snyder nicht. Er stellt aber klar, dass die Bewegung sich durch ihre Proteste von der Abhängigkeit von Janukowitsch befreite. Dass keine Massenbewegung dahinter stand, haben letztlich die Präsidentenwahlen im Mai bewiesen, bei denen rechte Parteien gerade einmal zwei Prozent der Stimmen holten.
Die Konstruktion einer starken ultra-rechten Bewegung nutzte auch Putin, um den Maidan als national-faschistischen Staatsstreich darzustellen. Dies gelang ihm: Die ungeheure Wirkung seiner Propaganda in Russland, die „Trennung der Welt in Freund und Feind“ beklagt die russische Schrifstellerin Alissa Ganijewa, die sich plötzlich sogar in ihrem Freundeskreis als „Nationalverräterin“ fühlt, weil sie nicht in die Hochstimmung nach Putins Krim-Annexion einstimmte.
Auf Europa ist kein Verlass
Umso enttäuschter ist die Reaktion darauf, dass auch einige westliche Medien und Teile der Öffentlichkeit in Europa den Maidan als faschistischen Putsch abtaten. Von der EU hätten sich viele Autoren ein klareres Eintreten für die Maidan-Aktivisten und ein deutlicheres Bekenntnis gegen Russland gewünscht. „Wir wollen endlich verstanden werden“, schreibt der Germanist Jurko Prochasko und warnt vor Ressentiments gegen Europa in seiner Heimat: „Putin ist der klare, deklarierte Feind, auf Europa ist kein Verlass, den Westen gibt es nicht“.
Dem Band hätte eine Einschätzung gutgetan, wie die Chancen auf Erneuerung in der Ukraine angesichts dieser Lage eigentlich stehen. Denn auch in ukrainischen Medien gibt es weiterhin massive Propaganda, und die Macht der Oligarchen ist ungebrochen. Allein der neue Präsident Petro Poroschenko kontrolliert über eine Holding einen Fernsehkanal und einige Nachrichtenportale des Landes. Die eigentliche gesellschaftliche Erneuerung, die der Maidan zum Ziel hatte, wird angesichts der bedrohlichen Lage im Osten des Landes viel länger dauern als erhofft.
Andruchowytsch, Juri (Hrsg.):
Euromaidan
Was in der Ukraine auf dem Spiel steht
© Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp
978-3-518-06072-8