Serbien

Serbien und der Erste Weltkrieg

Es sollte eine Botschaft des Friedens werden: Mit zahlreichen Ausstellungen und künstlerischen Aktionen wurde in Sarajevo des 100. Jahrestags des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand gedacht. Schlussakt und Höhepunkt der Feierlichkeiten war ein Konzert der Wiener Philharmoniker in der wiederaufgebauten Stadthalle von Sarajevo – „leidenschaftliches Plädoyer für Versöhnung“, wie Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg vor der Aufführung betonte. Doch zumindest mit Serbien fiel die Versöhnung aus. Sowohl der serbische Präsident Tomislav Nikolic als auch Premierminister Aleksandar Vucic hatten eine Woche zuvor ihre Teilnahme abgesagt.

Denn der Ort war symbolisch aufgeladen: Bosnische Serben hatten während der Belagerung Sarajevos die im pseudomaurischen Stil erbaute „Vijecnica“ in Brand geschossen. Als Ruine mahnte das ehemalige Wahrzeichen der Stadt jahrelang an den Krieg, dann wurde es mit Unterstützung der EU und Österreich wieder aufgebaut und im Mai diesen Jahres feierlich wiedereröffnet. Zum Stein des Anstoßes wurde für die serbische Staatsspitze eine Gedenktafel am Eingang, worauf der eigentlich nüchterne Hinweis steht, dass „serbische Kriminelle“ das Gebäude 1992 in Brand gesetzt hätten. Ganz anders sieht das aber offenbar der serbische Präsident: Er könne nicht an einen Platz kommen, wo „seine Leute angeklagt“ werden, so Nikolic zur Begründung seiner Absage.


Das Weltkriegsgedenken spaltet anstatt zu versöhnen

Tatsächlich ist es in Sarajevo der Krieg Anfang der 1990er Jahre, der noch immer alles andere überlagert. Und doch ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass Serbiens Führung auch aus anderen Gründen nicht besonders interessiert war, nach Sarajevo zu fahren. Denn nicht nur die jeweilige Sicht auf die jüngsten Kriege, auch die Bewertung das Ereignisses vom 28. Juni 1914 unterscheidet sich fundamental. Und so droht das Gedenken an den Ersten Weltkrieg auf dem Balkan die Gegensätze eher zu vertiefen, statt zur Versöhnung beizutragen.

Wer war jener Gavrilo Prinicp, dessen Tat indirekt den Ersten Weltkrieg auslöste, ein Terrorist oder Freiheitskämpfer? So lässt sich vereinfacht die seit Monaten andauernde Debatte um den Attentäter zusammenfassen. Wurde zu jugoslawischer Zeit der Attentäter Gavrilo Princip ungebrochen als Held verehrt, sehen ihn viele bosnische Muslime und Kroaten nun als nationalistischen Terroristen, als Vorreiter der großserbischen Idee, die in den 1990er Jahren ihren blutigen Abschluss finden sollte. Ihren serbischen Landsleuten und auch in Serbien selbst gilt er dagegen weiter als anti-kolonialistischer Freiheitskämpfer, der sich gegen eine unterdrückerische Besatzungsmacht, das Habsburger Reich, auflehnte.

Entsprechend enthüllten bosnische Serben bereits am Freitag in Ost-Sarajevo eine lebensgroße Statue für den Attentäter. Unter dem Beifall von etwa 1000 Schaulustigen würdigte das serbische Mitglied im Staatspräsidium, Nebojsa Radmanovic, Gavrilo Princip als „Patrioten“. Den eigentlichen Gedenktag beging die serbische Staatsspitze dann jedoch in der ostbosnischen Stadt Visegrad, wo der umstrittene Filmemacher Emir Kusturica in den letzten Jahren mit der Kunststadt „Andricgrad“ ein Art serbisches Disneyland aufgebaut hat. Auch hier wurde Gavrilo Prinicip als Kämfer gegen die österreichisch-ungarische Fremdherrschaft in Bosnien gewürdigt: Auf der Außenwand des örtlichen Kinos wurde ein großes Wandmosaik mit Gavrilo Princip enthüllt.


Die Kriegsschuldfrage erhitzt auch nach 100 Jahren die Gemüter

Doch es geht nicht nur um die Interpretation des Attentats, auch die Kriegsschuldfrage erhitzt in Serbien immer noch die Gemüter. Schon ein internationales Historiker-Treffen in Sarajevo hatte deshalb ohne nennenswerte serbische Beteiligung stattgefunden. Stattdessen organisierten serbische Historiker eine eigene Konferenz in Belgrad. „Wir Serben“, erklärte dort der serbische Präsident Tomislav Nikolic zum Auftakt, „sind mit dem Versuch einer Verfälschung der Geschichte konfrontiert.“ Lüge würde zur Wahrheit, und der serbische Kampf für Freiheit werde durch den Dreck gezogen.

Der Anlass für die schon seit Monaten anhaltende Aufregung ist das Buch „Die Schlafwandler“ des britisch-australischen Historikers Christopher Clark, in dem Serbien eine größere Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugeschrieben wird als bislang angenommen. Wochenlang war das Buch auch in Serbien in den Schlagzeilen. Und weil kaum jemand es gelesen hatte, glaubten viele, dass nun allein Serbien als vermeintlicher Drahtzieher des Attentats von Sarajevo an den Pranger gestellt werden sollte; selbst im Taxi konnte man in eine Debatte über die Lügen „westlicher Historiker“ verwickelt werden.


Kein Land litt so wie Serbien – jeder Vierte überlebte den Krieg nicht

Denn wer nun Schuld ist am Ersten Weltkrieg, ob der serbisch-bosnische Attentäter Gavrilo Princip als Held oder Terrorist zu gelten hat, diese Fragen rühren in Serbien an das nationale Selbstverständnis wie in kaum einem anderen Land – und dazu gehört die Überzeugung, unschuldig in einen Krieg hineingezogen worden zu sein und dabei am meisten gelitten zu haben. Tatsächlich hatte Serbien gemessen an seiner Bevölkerungszahl mehr Opfer zu beklagen als jede andere beteiligte Nation. Fast jeder vierte Serbe überlebte den Ersten Weltkrieg nicht.

Mit entsprechend großen Worten wird normalerweise über den „Großen Krieg“, wie der Erste Weltkrieg in Serbien genannt wird, geredet: Das serbische Volk habe „in biblischem Ausmaß gelitten“, sagt etwa der Historiker Dusan Batakovic. Die Zeit des Krieges sei für die Serben eine „epische Saga“. Damit ist das Leiden der Bevölkerung unter der Besatzung gemeint, der Rückzug der Armee über die Berge Montenegros und Albaniens, das „serbische Golgota“ - und schließlich: die „Wiederauferstehung“, mit dem entscheidenden Angriff 1918 an der Salonikifront. All das komme in der europäischen Geschichtsschreibung doch überhaupt nicht vor, beklagt Batakovic.


Erinnern wird zur patriotischen Aufgabe stilisiert

Von konservativen Historikern und Politikern, die normalerweise wenig über die von Serbien angezettelten Kriege in den 1990er-Jahren sprechen, wird das Erinnern an den Ersten Weltkrieg nun gar zur patriotischen Aufgabe für die Zukunft hochstilisiert. „Wir sind ein demoralisierte Nation“, sagt etwa Batakovic. „Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass sich Serbien über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs neu erfindet.“

Nur wenige bleiben bei so viel Rummel nüchtern, wie etwa der junge Historiker Danilo Sarenac. Der Erste Weltkrieg sei tatsächlich zentral für die serbische Identität, betont er. Aber wenn die Geschichte für politische Zwecke instrumentalisiert wird, sei das immer schlecht: „Das sollten wir bei diesem Jubiläum nicht zulassen.“ Sarenac fordert eine seriöse Debatte über die Werte, die durch die Gedenkaktivitäten transportiert werden sollen. Aber die wird es wohl nicht geben, fürchtet er.

Tatsächlich weiß in Serbien nämlich immer noch niemand, wie und woran überhaupt offiziell erinnert werden soll. Es gibt zwar ein vom Kulturministerium eingesetztes Komitee, das mit der Vorbereitung und Auswahl von Veranstaltungen beauftragt wurde. Aber von einem Programm ist noch immer nichts bekannt. Auch am 28. Juni hatte es in Serbien keine Veranstaltung zum Attentat von Sarajevo geben. Wieso auch, sagt Dejan Ristic vom Kulturministerium: „Mit dem Attentat hatten wir ja nichts zu tun.“


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