Die verordnete Wende
Fatos Lubonja wird der Vaclav Havel Albaniens genannt. Als Schriftsteller, Journalist, Publizist und Dissident hat er sich einen Namen als Querdenker in der politischen Landschaft Südosteuropas gemacht. Ein Interview mit Albaniens führendem Intellektuellen, der die Wende im albanischen Gulag erlebt hat. Eine Wende, die für ihn mehr denn je ein Mythos ist, der nichts mit einem Neuanfang zu tun hat.
Wie haben Sie das Jahr 1989 erlebt?
Fatos Lubonja: 1989 war ich noch im Gefängnis Burrel. Meiner Meinung nach passierte in Albanien in dem Jahr so gut wie nichts in Sachen Wende. Erst im Januar 1990 verbesserten sie teilweise den Zustand der Zellen, stellten uns ein paar hölzerne Betten hinein und – bis dahin unvorstellbar – Fernseher. Aber sie planten auch ein neues Gefängnis in Kosova (Belesh) und wandelten Burrel in ein Hochsicherheitsgefängnis um.
Was geschah mit den Gefangenen?
Fatos Lubonja: Sie begannen einige von uns freizulassen. Zuerst diejenigen, die mehr als 25 Jahre im Gefängnis saßen. Als wir aus Burrel in das andere Gefängnis überführt wurden, schöpften wir etwas Hoffnung, alles schien freier abzulaufen. Wir bastelten uns sogar Antennen für die Fernseher. Es gab ein paar Anzeichen, aber nichts war klar. Außerdem konnte sich niemand vorstellen, dass sich Albanien bewegt. Das Land war vollkommen isoliert, sowohl der Ostblock als auch der Westblock waren Feinde. Selbst wenn sich also die Regime des Ostblocks auflösten, konnte sich niemand vorstellen, dass das auch in Albanien passieren würde. Die Machthaber betrachteten sich als unabhängig vom Ostblock.
Wie erfuhren Sie vom Fall der Berliner Mauer?
Fatos Lubonja: Es gab Nachrichten in der Zeitung „Zëri I Popullit“ (Stimme des Volkes), nicht in Form großer Schlagzeilen, aber als Notizen. 1989 gab es Geschichten von den Deutschen, die nach Ungarn flohen, und wir hatten auch Informationen über die Perestrojka. Trotz dieser Ereignisse hatten wir nicht viel Hoffnung. Ich sage das aus Sicht eines Gefangenen, aber ich glaube, das war auch die Sicht der einfachen Menschen. Am Ende schuf die katastrophale wirtschaftliche Situation die Stimmung für den Wandel.
Gab es keine Albaner, für die die Wende in Osteuropa ein Vorbild war?
Fatos Lubonja: Die Hinrichtung von Nicolae Ceausescu hatte eine gewisse Wirkung, aber insgesamt ist Albanien nicht den Spuren des Wandels in den anderen Ländern gefolgt. Das Bewusstsein der Menschen und die internen Beweggründe spielten auch eine untergeordnete Rolle. Der Wandel hier wurde von oben herab vorbereitet. Das erste Anzeichen dafür war ein Treffen von Parteichef Ramiz Alia mit albanischen Intellektuellen. Das gab es noch nie! Alia fragte sie nach ihrer Meinung, wie man einen Pluralismus der Ideen oder einen Pluralismus der Parteien realisieren könnte, und alle anwesenden Intellektuellen sprachen sich lediglich für einen Pluralismus der Ideen aus. Daraufhin wurden zwei Artikel in „Zëri i Popullit“ veröffentlicht, ich denke von Ylli Popa und von Sali Berisha selbst. So wurden die Menschen auf einen erwarteten Wandel vorbereitet.
Wie stark war das Regime noch?
Fatos Lubonja: Selbst nach dem Sturm auf die Botschaften am 2. Juli versuchten sie, die Menschen am Verlassen des Landes zu hindern. Sie organisierten eine Gegendemonstration, auf der Hunderttausende gegen die „Landesverräter“ zeterten. Es gab im Januar eine Revolte in Shkodra, wo Menschen versuchten das Stalin-Denkmal zu stürzen, aber sie wurden inhaftiert. Wenn man bedenkt, dass diese Menschen zu Zeiten von Enver Hoxha exekutiert worden wären, konnte man schließen, dass sich etwas verändert hatte. Aber die Zeichen waren sehr widersprüchlich.
Welche Rolle spielte der Geheimdienst?
Fatos Lubonja: Die Geheimdienste arbeiteten mit voller Kraft weiter. Selbst an den letzten Tagen des Regimes schrieben die Spione Berichte über meine Aktivitäten im Gefängnis. Doch sie spielten auch eine Rolle bei der Vorbereitung der Wende. So wurden zwei Hauptanklagepunkte im Strafgesetzbuch geändert. Bis dahin galt: Wer sich gegen das Regime aussprach oder über die Grenze fliehen wollte, wird mit dem Tod bestraft. Die Todesstrafe wurde aufgehoben, was sie als Vorwand nutzen, um alle Akten zu vernichten, die diese beiden Anklagen betrafen.
Was ist mit den anderen Akten des Geheimdienstes geschehen? Voriges Jahr gab es nach dem Besuch der deutschen Beauftragten für die Stasi-Akten in Albanien Forderungen, die eigenen Akten zu öffnen.
Fatos Lubonja: Ich glaube, sie haben die Akten beider Seiten vernichtet: die der Verfolgten und die der Agenten. Ich habe selbst versucht meine Akte zu finden, aber erfolglos. All dieser Lärm um eine Öffnung der Akten wird aus politischen Gründen gemacht. Niemand will sie wirklich zugänglich machen.
In diesem Jahr schauen manche mit einem verklärten Blick auf die Ereignisse der Wende. Glauben Sie, dass die Wende in Albanien idealisiert wird?
Fatos Lubonja: Menschen brauchen ihre Mythen, aber die Tatsachen sehen anders aus. Die Wende in Albanien war kein Neuanfang, keine Revolution. Es gab auch keine gewalttätigen Revolten, die zu einem Austausch der Elite geführt hätten. Das war gestellt, arrangiert, von Oben befohlen – eine Inszenierung.
Also hat die Macht-Elite überlebt?
Fatos Lubonja: Ja. Die Situation erinnert mich sehr an China und Russland, wo die Kontinuität der Macht stärker war als in Ostblockländern wie Polen oder der Tschechischen Republik. Albanien hatte keinen inspirierenden Dissidenten, keine Figur von Format. Die Elite hat das stalinistische Regime zerstört, nicht die Bevölkerung. Die Menschen konnten nicht zusammenkommen und für ihre Ideale kämpfen, weil sie sich gegenseitig misstrauten. Den Albanern wurde also die Freiheit gegeben, sie haben sie sich nicht erarbeitet.
Wie wird das heute diskutiert?
Fatos Lubonja: Eine ernsthafte Debatte über den Fall des Regimes findet nicht statt. Die heutige politische und intellektuelle Führungselite hat mit dem Regime der Vergangenheit zusammengearbeitet, aber jeder spricht auf seine Weise vom Widerstand gegen das Regime. Die sollten viel mehr über ihre eigene Verantwortung sprechen.
Hintergrund
Fatos Lubonja stammt aus einer südalbanischen Intellektuellen-Familie und lebt teils in Italien, teils in seiner Heimat. Im Alter von 23 Jahren wurde er angeklagt, ein kritisches Tagebuch gegen den kommunistischen Diktator Enver Hoxha verfasst zu haben, und inhaftiert. 17 Jahre musste er im Burrel verbringen, einem der schlimmsten Gefängnisse des Regimes – bis 1991, als der Umbruch in Albanien in vollem Gang war.Als Autor hat Fatos Lubonja mit seinem Buch „Second Sentence – Inside the Albanian Gulag“ für Aufsehen gesorgt. 2002 wurde ihm der Albert-Moravia-Preis verliehen, 2004 der Herder-Preis für Literatur. Als Herausgeber der Zeitschrift „Përpjekja“ (Bemühen) setzt er sich vehement für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte in Albanien ein.