Österreichische Spuren im Altaigebirge
„Diese Straße sollten Sie nicht alleine befahren“, warnt Fjodor Scherschnjow, ein Hüne mit Schnauzbart und Brille, und meint damit die Passstraße zum Hochgebirgssee Markakol. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, dass der 53-jährige nicht nur Recht hat – sondern ein einzigartiger Kenner des kasachischen Altai an der Grenze zu Russland und China ist.
Die Straße, vor der Scherschnjow warnt, ist der sogenannte Österreichweg, eine rund 130 Kilometer lange Verbindung von Katon-Karagai, dem Zentrum des gleichnamigen Nationalparks, über den Alatai-Pass zum Markakol-See.
Die Nachbarin hat die Gefangenen noch kennengelernt
Woher dieser Name, hier im hintersten Kasachstan, mehr als 5.000 Kilometer von Österreich entfernt? „Die Straße wurde im Ersten Weltkrieg von österreichischen Kriegsgefangenen gebaut“, erklärt Fjodor Scherschnjow. Das bestätigt so ziemlich jeder, den man hier danach fragt. Viel mehr jedoch weiß kaum einer – außer Scherschnjow. Der ist eigentlich Elektriker, doch er liebt den Altai, wo er geboren ist, und hat viele Geschichten und Mythen aus der Gegend rund um seinen Heimatort Katon-Karagai gesammelt. Schon als Kind habe er sich für die Geschichte des „Österreichwegs“ interessiert, sagt er.
1915 seien rund 150 bis 300 Soldaten des Heers von Österreich-Ungarn als Kriegsgefangene hierher gekommen. So haben Scherschnjows Großeltern es ihm erzählt. Die k.u.k.-Monarchie befand sich damals in einer Allianz mit dem kaiserlichen Deutschland und im Krieg mit dem russischen Reich, zu dem Kasachstan zu dieser Zeit gehörte.
„2008 ist unsere damals 104-jährige Nachbarin gestorben“, erinnert Scherschnjow sich, „sie hat die Kriegsgefangenen noch selbst erlebt.“ Aus ihren Erzählungen kennt er Details aus diesem fast vergessenen Kapitel des Ersten Weltkriegs. Tatsächlich ist kaum etwas bekannt über die deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen in Zentralasien.
Die Geschichte der Kriegsgefangenen in Kasachstan ist kaum bekannt
Der Wiener Historiker Peter Felch bestätigt das. „Wohl wegen der Überlagerung durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Gleichsetzung von ,Kriegsgefangenschaft’ und ,Sibirien’“, so Felch, kenne kaum jemand die Geschichte des „Österreichwegs“. „Mit Ausnahme weniger Historiker und Orientalisten ist niemandem bekannt, dass über 200.000 Österreicher, Ungarn und etliche tausend Deutsche in etwa 40 Lagern im damaligen Generalgouvernement Turkestan und im Altai gefangen gehalten wurden“ – also in Teilen des heutigen Kasachstans, Usbekistans, Turkmenistans und Kirgistans.
Felch zufolge wurden die Kriegsgefangenen von der Ostfront per Bahn quer durchs Zarenreich transportiert, um sie in den entlegenen Gebieten als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft oder für den Bau von Straßen, Brücken oder Kirchen einzusetzen.
An der Dorfstraße in Katon-Karagai weist Fjodor Scherschnjow auf eines der einfachen, weiß getünchten Bauernhäuser: „Das hier ist das letzte Haus des Gefangenenlagers“. Zehn Baracken habe es gegeben, die sich die Soldaten aus dem Holz der umliegenden Wälder zunächst selbst bauen mussten. „Sehen Sie diese mächtigen Balken?“, fragt Scherschnjow. „So eine stabile Bauweise gab es zu der Zeit in Russland nicht“. Damals habe das Lager noch außerhalb des Ortes gelegen, anfangs stark überwacht, später sich selbst überlassen. „Unerkannt fliehen konnten sie ja nicht“.
Schlammlawinen und Erdrutsche
Der Auftrag der Zwangsarbeiter sei es gewesen, die Straße über den Alatai-Pass nach Süden auszubauen. Die diente nicht nur als Handelsweg, sondern war eine strategisch wichtige Grenzstraße zum benachbarten China. Das Problem: Schnee- und Regenfälle zwischen September und Mai. Bis heute ist der Pass deshalb nur im Sommer zu passieren.
Mit Fjodor Scherschnjow und einem alten russischen Geländewagen geht es schließlich bergauf zum Alatai-Pass. In Serpentinen windet sich die staubige Schotterspur des „Österreichwegs“ hinauf, den 2.906 Meter hohen Gipfel des Altykyz immer vor Augen, dann wieder hinab ins Tal der Kara-Kaba. Diesen jetzt friedlich vor sich hinplätschernden Fluss an einer Furt zu überqueren, verlangt fahrerisches Können. Meist ist er ein reißender Strom, der die Straße regelmäßig überflutet, Schlammlawinen und Erdrutsche auslöst. Unvorstellbar, unter welchen Bedingungen die Kriegsgefangenen hier vor hundert Jahren gearbeitet haben.
„Ein deutscher oder österreichischer Ingenieur muss den Straßenbau geleitet haben“, ist sich Scherschnjow sicher. Er schlägt sich ein Stück abseits der Straße durch die Büsche. Das Flussbett der Kara-Kaba ist hier breiter, in der Mitte eine kleine Insel. Darüber spannt sich eine verfallene Brücke aus schwarzem, mit Moos überzogenem Holz. „Das ist deutsche Fachwerkbauweise, sehen Sie das?“
Tatsächlich sind die typischen schrägen Balken zu erkennen, der Platz für die Brücke ist überlegt gewählt, ein Pfeiler auf der Insel gibt der Brücke mehr Stabilität. Einhundert Jahre alte deutsche Ingenieurskunst mitten im Altai. Fünf weitere Fachwerkbrücken gebe es noch, erzählt Scherschnjow und bedauert, dass diese „Denkmäler“, wie er sie nennt, nicht erhalten würden.
Auf dem Friedhof liegen 30 Kriegsgefangene
Wieder zurück in Katon-Karagai zeigt Fjodor Scherschnjow noch den malerisch gelegenen alten Friedhof. Pappeln rauschen, es riecht nach Thymian und Beifuß. Das Gras steht kniehoch, nur einige schiefe orthodoxe Metallkreuze ragen heraus. „Rund 30 Kriegsgefangene sind hier begraben“, erzählt Scherschnjow. Gräber sind nicht mehr zu erkennen, auch keine Kreuze mit Namen, Geburts- und Sterbedaten.
Die meisten der Kriegsgefangenen seien wohl bis zum Ende des Krieges geblieben. „Einen geordneten Abzug gab es aber nicht“, so Scherschnjow. Sich selbst überlassen habe der Großteil sich dann vermutlich nach Russland durchgeschlagen und von da aus versucht, in die Heimat zu kommen. Er wüsste gerne, ob es einige tatsächlich geschafft haben.
Vielleicht bringt Historiker Felch jetzt Licht ins Dunkel. Er hat zusammen mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein Forschungsprojekt initiiert, um mehr über das Schicksal der Kriegsgefangenen in Zentralasien zu erfahren. „Aus alten Kirchenbüchern und Militärarchiven lässt sich noch vieles rekonstruieren. Den Nachkommen eines ungarischen Gefangenen haben wir in Usbekistan gefunden.“ In diesem Jahr plant Felch eine Reise in den Altai.