Kichernd Kondome kaufen - Aids in Russland
Intravenöser Drogenwahn und ungeschützter Geschlechtsverkehr sind sein bevorzugtes Millieu: Alle 14 Sekunden infiziert sich ein Jugendlicher weltweit mit dem heimtückischen „Human Immunodeficiency Virus“, der als Kürzel HIV besser bekannt ist. Fast die Hälfte aller Neuinfektionen pro Jahr entfallen auf junge Menschen unter 25 Jahren, so die aktuellen Zahlen der „Deutsche Stiftung Weltbevölkerung“.
Auch in Russland sieht die Lage kaum besser aus: Acht von zehn Infizierten im größten Land der Erde sind zwischen 15 und 29 Jahre alt. „Es geht hier nicht nur um ein medizinisches Problem, sondern um das wirtschaftliche und soziale Scheitern unserer Jugend“, sagt Sergej Iwanow, stellvertretendender Leiter der Sanitätsbehörde beim russischen Gesundheitsministerium.
Bei jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren tritt eine HIV-Infektion fünf bis sechs Mal häufiger auf als bei der Durchschnittsbevölkerung, schätzt der Mediziner: „Das sind Ziffern, die uns sehr beunruhigen“.
Die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch russlandweit 254 000 offiziell registrierte HIV-Träger entstehen, sind hoch: Arbeitskräfte fallen aus, erkrankte Patienten und verwaiste Kinder müssen betreut werden. Im Jahr 2001 konnten mehr als 5 000 junge Männer im ganzen Land aufgrund ihrer Infizierung nicht den Wehrdienst antreten. Die Statistiken sprechen für sich: Kamen vor zwei Jahren noch 121 Infizierte auf 100 000 Einwohner, so hat sich die Zahl bereits auf 157 Betroffene erhöht.
Am rasantesten verbreitet sich der Virus jedoch unter Drogenabhängigen: Drei von vier HIV-Infizierten stecken sich bei der gemeinsamen Nutzung von Spritzbesteck an, warnt das Russische Gesundheitsministerium. Gestiegen ist die Zahl der Betroffenen jedoch auch in anderen Gruppen: So hat sich vermutlich jeder Achte beim Geschlechtsverkehr infiziert, vermuten die Behörden. Vor allem in der russischen Exklave Kaliningrad und im südrussischen Küstengebiet Krasnodar seien die Zahlen sprunghaft angestiegen, sagt Iwanow, ohne diese Tatsache näher zu beziffern. Experten sehen soziale Faktoren wie verstärkten Drogenmissbrauch, aber auch eine steigende Zahl an Prostituierten als Ursache. Ein weiteres Risiko sei der natürliche Umgang mit Verhütungsmitteln. „Viele junge Menschen schämen sich, in der Apotheke nach Kondomen zu fragen“, berichtet Iwananow.
Die Leidtragenden seien vor allem ungeborene Kinder. In den vergangenen 15 Jahren wurden in Russland rund 6 300 Säuglinge mit einer HIV-Infektion zur Welt gebracht. Nach Schätzungen des Mediziners werden etwa 70 Prozent der Neugeborenen bei der Geburt mit dem Virus angesteckt. „Jede Mutter hat zwar einerseits das Recht, Leben zu schenken, auf der anderen Seite ist das Risiko einer Infektion bei der Geburt extrem hoch“, so Iwanow über die ethische Zwickmühle, in der sich viele Patientinnen oft wieder finden. Jede vierte Mutter, die ein infiziertes Kind zur Welt gebracht hat, hat erst bei der Geburt vom gefährlichen Virus im eigenen Körper erfahren. Experten vermuten das diese Frauen überhaupt keine Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft wahr genommen haben.
„Grundlegend ist die Prophylaxe, nicht die Heilung“, sagt Marina Sementschenko, die das Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Bereich HIV/Aids in Russland leitet. In knapp 100 Aufklärungs- und Beratungszentren werden kostenlos Kondome verteilt, Experten nehmen sich Zeit für Hilfesuchende und Erkrankte. Oft werden diese Einrichtungen jedoch von Nicht-Regierungs-Organisationen geführt. Sementschenko würde dem Staat gerne mehr Verantwortung übertragen: „Stabilität bei der Prophylaxe kann nur der Staat garantieren“, so die engagierte Expertin. „Das kann man nicht einfach auf Initiativen abwälzen, die kommen und gehen“, so die Expertin.
Im vergangenen Jahr hat die russische Regierung 122 Millionen Rubel (etwa 3,5 Millionen US-Dollar) für Aufklärung ausgegeben. „Das ist viel zu wenig“, sagt Iwanow und zieht den Vergleich zu Brasilien: „Dort werden jährlich 300 Millionen Dollar in die Prophylaxe investiert“, so der Mediziner. Durchführung und Diagnose der Tests lässt sich der russische Staat jährlich rund sieben Millionen Dollar kosten, diese Summe ist in den USA etwa 14 Mal so hoch.
Wichtig sei vor allem der Umgang der Massenmedien mit dem Tabu-Thema HIV/Aids. „Zahlen werden munter verdreht, ich habe schon von einer Million Infizierten in Russland gelesen“, sagt Alexander Goliusow, Leiter der Abteilung „Prophylaxe HIV/Aids“ beim russischen Gesundheitsministerium Goliusow und schüttelt den Kopf. „Denn oft wird jede beliebige Immunschwäche, die durch Stress ausgelöst sein kann, einfach mit Aids gleichgesetzt. „So wird Aids ohne Aids propagiert“, sagt der Mediziner.
Diskriminierung habe er nur einmal während seiner medizinischen Laufbahn erlebt, als ein Arzt infizierte Kinder nicht in ein Sanatorium aufnehmen wollte. Erst als er seinen Kollegen über das geringe Risiko einer Ansteckung aufgeklärt habe, hätte dieser eingewilligt. „Infizierte, das sind Menschen wie du und ich, das verstehen viele jedoch nicht“.
Auch sein Kollege Sergej Iwanow kennt Beispiele aus der Praxis: „Ein Behinderter aus der Stadt Magadan an der russischen Pazifikküste wurde aus einer Klinik verwiesen, der Zutritt zu staatlichen Mensen wurde ihm verweigert und sein Name in den regionalen Medien öffentlich bekannt gemacht“, empört sich der Arzt.
Oft würde die breite Öffentlichkeit jedoch nichts von solchen Fällen erfahren, da die Betroffenen zu geschwächt seien, um sich öffentlich zur Wehr zu setzten. „Erst wenn sie keinen Kanten Brot mehr zu essen haben, nutzen viele den letzten Ausweg und schreiben einen Brief an den Präsidenten“. Bis die russische Gesellschaft mündig sei, um mit der Immunschwäche-Krankheit vernünftig umzugehen, sei es noch ein sehr langer Weg, sagt der Mediziner resigniert.