Vor der Präsidentenwahl: Enttäuschter Maidan
Es ist Mai, aber der große metallene Weihnachtsbaum mitten auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, steht immer noch. Das Gerüst ist mit Plakaten übersät und so etwas wie das Schwarze Brett der Revolution. Im Winter hing hier ein Porträt von Julia Timoschenko, bis vor wenigen Wochen ein Konterfei des russischen Präsidenten Wladimir Putin – mit Hitlerbart.
Inzwischen sind die Bilder abgehängt. Über das Feindbild Wladimir Putin herrscht Einigkeit, doch es fehlt eine Ikone für den Präsidentschaftswahlkampf. Euphorie für einen Kandidaten sucht man hier vergebens. Überhaupt merkt man davon, dass in der Ukraine am Sonntag ein neuer ukrainischer Präsident gewählt werden soll, hier am Maidan wenig.
„Eine neue Politikergeneration hat sich noch nicht entwickelt“
„Es tritt nun mal die alte Politikerkaste an. Die Favoriten Petro Poroschenko und Julia Timoschenko hatten schon ihre Chance. Sie sind diskreditiert“, sagt Olja. Die 22-jährige Journalistin hat mit Freunden die Hotline „Euromaidan SOS“ eingerichtet, um Angehörigen bei der Suche nach Vermissten zu helfen. „Es geht wieder nur ums Geld. Und eine neue Politikergeneration hat sich noch nicht entwickelt“, seufzt sie. „Aber wir sind eben in einer Übergangsphase – und müssen wohl geduldig sein.“
Von Geduld will Wanusch hingegen nichts wissen. Der grauhaarige Mann steckt in einem Camouflage-Anzug, stammt aus Uschgorod im Westen des Landes und lebt seit fünf Monaten in der Zeltstadt am Maidan. „Wir haben gegen die Korruption gekämpft, und nichts hat sich geändert!“, donnert Wanusch. „Man muss alle Beamten entlassen – vom niedrigsten bis zum höchsten! Wenn ein Mensch krank ist und er nicht zum Arzt geht, wird er auch nicht gesund.“
Über die Frage, wie die kranke Ukraine geheilt werden soll, scheiden sich am Maidan aber die Geister. Wenige Meter weiter steht das einzige Wahlkampfzelt am Maidan – das der Ärztin Olha Bohomoletz. Die 48-jährige Kiewerin nahm aktiv am Maidan-Aufstand teil, sprach den Demonstranten von der Bühne aus Mut zu und hat als Leiterin eines Koordinierungszentrums viele Verletzte des Maidan versorgt. Jetzt kandidiert sie fürs Präsidentenamt. Unter den Maidan-Aktivisten genießt sie großes Ansehen, an einen Erfolg glaubt aber selbst der junge Mann nicht, der vor dem Zelt Flyer verteilt. „Seien wir doch ehrlich – sie ist doch viel zu unbekannt“, winkt er mit saurem Gesicht ab. Laut Umfragen liegt sie derzeit bei zwei Prozent.
Der Kandidat des „rechten Sektors“ kommt nur auf ein Prozent
Nach dem Umsturz hatte es durchaus Versuche gegeben, Maidan-Aktivisten in die Übergangsregierung zu holen. Drei erhielten ein Ministeramt. Doch das Misstrauen gegen die Regierung, die zum großen Teil aus alten Gesichtern besteht, ist unter den Aktivisten trotzdem groß. Dmytro Jarosch, der Chef des „Rechten Sektors“, war ebenso für einige Posten im Gespräch. Dem radikalen „Rechten Sektor“ wird große Bedeutung für den Umsturz im Februar beigemessen. Jarosch kandidiert nun ebenfalls für das Präsidentenamt, in Umfragen liegt er jedoch bei weniger als einem Prozent. Viele Ukrainer lehnen die Ansichten der rechtsextremen Gruppe ab.
So auch Ljubow. Sie ist Krankenschwester und hat mitgeholfen, ein Gebetszelt für alle Konfessionen am Maidan aufzubauen. Wenn sie wählen könnte – sie stammt aus der Region Winnyzja, hat aber einen russischen Pass und ist deswegen nicht wahlberechtigt – würde sie bei Oleh Ljaschko ihr Kreuz machen, einem Kompromisskandidaten zwischen der alten Elite und den extremen Positionen des „Rechten Sektors“. „Er hat zumindest mit uns Molotow-Cocktails geworfen, während die anderen Politiker in der warmen Stube saßen“, sagt sie. Ljaschko saß mehrere Jahre für die Timoschenko-Partei im Parlament, bevor er 2010 die „Radikale Partei“ gründete und sich im Winter den Protesten am Maidan anschloss.
Wenige Meter weiter blinzelt Taras, ein ehemaliger General aus Lemberg, in einem bunten Trachtenhemd und einem dicken Fellhut in die Mai-Sonne. Wenn die Rede auf die Politik kommt, ist das gütige Lächeln schnell verflogen. „Wir brauchen endlich eine starke Führung und neue Gesichter!“, sagt der Mann mit dem üppigen Schnauzbart.
Laut den Aktivisten sollte die Zeltstadt ursprünglich nach dem 25. Mai, dem Tag der Präsidentschaftswahl, abgebaut werden. Davon ist längst keine Rede mehr. Taras spricht aus, was dieser Tage viele am Maidan denken: „Wir bleiben, bis das Land ganz auf Reformen eingestellt ist. Wenn das nicht passiert, wird sich der Maidan eben noch einmal erheben. So lange und so oft, wie es nötig ist!“