Wir sind an der Freiheit gescheitert
Kurz vor 1989 erörterte ich mit Diplomaten, Politikern und Journalisten die Frage, wie in der Region Zentraleuropas eine Art Finnlandisierung zu erreichen sei. Mit anderen Worten schwebte uns eine Abnabelung vom militärischen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Sowjetunion vor. Mir kam damals nicht einmal in den Sinn, dass Ungarn und die anderen Länder der Region sich in Kürze dem Westen anschließen würden.
Ich dachte höchstens daran, dass Ungarn nach dem Vorbild Finnlands eine neutrale Position einnehmen könnte. Unversehens kamen die Ereignisse allerdings ins Rollen, und wir, die wir uns inmitten der Umwälzungen befanden, sahen teils freudvoll, teils angsterfüllt dabei zu, wie unsere alte, verhasste Welt in sich zusammenbrach.
Der Anblick – geben wir es zu – war ein freudvoller Moment, wie es auch das Auskosten der Freiheit war, die für uns bis dahin allenfalls in kultureller Hinsicht greifbar gewesen war. Die Veränderungen erfüllten uns aber auch mit Angst, führten uns doch die Kämpfe zwischen den Völkern der Sowjetunion und Jugoslawiens vor Augen, dass es viele gab, für die andere Dinge mehr zählten als die Freiheit.
Abstrakte Freude über den EU-Beitritt
Leider beließen wir es seinerzeit dabei, nur unsere eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, anstatt auf den Gesamtprozess Einfluss zu nehmen. Freudetrunken taten wir, was wir schon immer hatten tun wollen. Wir hegten nicht den geringsten Zweifel daran, dass unsere Zukunft in einer demokratischen, aufgeklärten und liberalen Welt vor sich gehen würde.
Am 1. Mai 2004, dem Tag des EU-Beitritts, erfasste uns gewissermaßen eine abstrakte Freude. Mir wurde erst Jahre später bewusst, wonach ich mich als frischgebackener Bürger der Europäischen Union sehnte: Zum Beispiel nach der Vielfarbigkeit des Kontinents und einer damit einhergehenden Absage an jegliches nationalstaatliches Denken.
Ich hätte mir ferner gewünscht, die europäische Integration wäre schneller, tiefer und organischer vor sich gegangen. Ich sehnte mich nach einem Europa mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, einem Europa, in dem sich der Wahnsinn des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen würde.
Vor zehn Jahren war meine Freude naiv und verantwortungslos. Heute indes bin ich von Traurigkeit und von Wut erfüllt. Der Grund dafür liegt darin, dass die reale Geschichte sich von jenem Bild inzwischen weit entfernt hat, das wir seinerzeit mit der Idee des gemeinsamen Europa verknüpft hatten. Unser Bewusstsein hinkt schon seit langer Zeit den Geschehnissen hinterher, und diesen Abstand haben wir bis heute nicht wettmachen können, ganz im Gegenteil: Die mangelnde Gleichzeitigkeit sticht immer mehr ins Auge.
Wir betrachten uns immer noch als Subjekte des Systemwandels
Als Resultat sind sowohl die Weltanschauung als auch das Selbstbild vieler von uns verzerrt: Wir betrachten uns immer noch als Subjekte des Systemwandels. Zugleich sind wir jedoch außerstande, jene Welt mit Inhalt auszufüllen, die dem Mitteleuropa der Zeit vor 1989 in nichts mehr ähnlich sieht. Obwohl Ungarn einst als Vorreiter der Veränderungen gegolten hatte, ist das Land sozusagen als erstes an der Freiheit gescheitert.
In Ungarn hat sich im Grunde alles verändert, abgesehen von denjenigen, die den Systemwandel vorangetrieben hatten – waren sie doch unfähig dazu, sich zu verändern. Was ist der Grund dafür?
In den neunziger Jahren schwelgte die ungarische Gesellschaft in der Freiheit, die sie wiedererlangt hatte. Sie fand großen Gefallen daran, dass die Welt sich mit ihr freute. Indessen änderten sich die Gegebenheiten zur Jahrtausendwende grundlegend. Dies war in erster Linie auf die Globalisierung zurückzuführen, die nicht nur mit vielen Segnungen, sondern auch mit ernsten Konflikten einherging.
Als Ungarn 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde, waren unzählige Ungarn plötzlich sich selbst überlassen. Vor allem diejenigen, die abgesehen von jener hermetisch abgeschlossenen, engen Welt der früheren sowjetischen Ordnung nichts anderes kannten. So lenkten sie all ihren Hass auf Dinge, die als Symbole für eine Wirklichkeit standen, die zwar unbekannt für sie war, jedoch sichtlich besser funktionierte als ihre eigene: die EU, die Banken, das Ausland, die Freidenker, die Juden, die Homosexuellen.
Die EU vermag nichts zu ändern
Es steht wohl außer Zweifel, dass die Hetzkampagne der konservativen ungarischen Regierung gegen die EU und die Banken sowie ihre heimtückische antisemitische Flüsterpropaganda nicht heute und nicht gestern begonnen hat, sondern zu jenem Zeitpunkt, als sie ihre Radikalen zum ersten Mal gegen die Linke und die Liberalen und später gegen die Veranstaltungen der Gay Pride aufhetzte.
So wie viele andere sehne auch ich wieder Europa und die EU herbei. Selbst wenn sie die ungarische Realität nicht zu ändern vermag, so kann sie sich zumindest gegen diejenigen abschirmen, die der demokratischen Welt feindlich gesinnt sind. Bislang war es lediglich ein bürgerliches Bestreben, sich über die nationale Blindheit hinwegzusetzen und auf ein föderales Europa hinzuarbeiten, heute indes gilt es als allgemeiner Imperativ.
Mehr Menschen haben das Land verlassen als nach 1956
Was einer der Gründerväter der Europäischen Union, Jean Monnet, 1943 sagte, hat noch heute Gültigkeit: „Es wird in Europa keinen Frieden geben, wenn die europäischen Staaten auf dem Prinzip der Souveränität neu geschaffen werden. Die Staaten Europas sind zu klein, um ihren Bürgern die notwendige gesellschaftliche Entwicklung und den damit verbundenen Aufschwung zu bringen. Die Staaten Europas müssen sich deshalb in einer Föderation zusammenschließen.”
Im Zuge der Revolution 1956 verließen rund zweihunderttausend Ungarn das Land, vor allem junge Menschen. Sie setzten ihre Hoffnungen damals vor allem in Europa beziehungsweise in den Westen. Die Demokratie wiederum gab ihnen die Kraft zum Neubeginn. Seit 2010 hat die dreifache Zahl an Menschen, etwa sechshunderttausend, das Land verlassen, insbesondere gut ausgebildete, junge Arbeitskräfte. Sie wurden ihrer Hoffnungen von einer Regierung beraubt, die nicht bloß ein Geheimabkommen mit den Nazis geschlossen, sondern auch einen Maffiastaat errichtet hat. Das Mutterland dieser Menschen ist im Begriff, sich immer weiter von Europa zu entfernen.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar