Von der Hand in den Mund
Während die Passanten den Kiewer Prachtboulevard Chreschtschatik hinuntereilen, steht Sofija an einer Straßenecke. Buntes Kopftuch, dicke Strickjacke, festes Schuhwerk. Mit einem schüchternen Lächeln streckt sie den Vorbeieilenden ein paar Sträuße Maiglöckchen entgegen.
20 Hrywnja, umgerechnet 1,30 Euro, das Stück. Wenn ihr ein Passant ins Netz geht, lacht sie mit ihren Silberzähnen in die Frühlingssonne. Sofija bekommt monatlich 1.100 Hrywnja Rente ausbezahlt, das sind knapp 70 Euro. Das Geld aus dem Blumenverkauf ist ein wichtiges Zubrot für sie.
Wenn ihr Bruder auf ihre pflegebedürftige Mutter aufpasst, pflückt sie im Wald ein paar Blumen, um sie dann im Kiewer Stadtzentrum zu verkaufen. Das reiche gerade so zum Leben, erzählt sie. „Aber ich beklage mich nicht – wir betteln nicht beim Staat, sondern nehmen unser Schicksal selbst in die Hand!“, sagt sie bestimmt. „Man findet schon etwas, das man verkaufen kann.“
Frauen wie Sofija, die Blumen, Zigaretten, Haushaltswaren oder Obst verkaufen, gehören in Kiew zum Stadtbild. Sie säumen die Kiewer Prachtstraßen, die U-Bahneingänge und breiten Marktplätze. Und ihre Situation wird sich weiter verschärfen:
Kiew muss Steuern erhöhen, Pensionen und Gehälter einfrieren
Zuletzt hat die Übergangsregierung unter Premier Arseni Jazeniuk ein Paket an „Anti-Krisen-Maßnahmen“ verabschiedet, um die Auflagen für einen IWF-Kredit über 17 Milliarden US-Dollar zu erfüllen. Dieser Tage wird die erste Tranche über 3,2 Milliarden US-Dollar überwiesen. Im Gegenzug hat Kiew zugesagt, Steuern zu erhöhen, Pensionen und Gehälter einzufrieren und Beamte zu entlassen.
Wer wie Sofija mit 70 Euro im Monat auskommen muss, gilt in der Ukraine als stark armutsgefährdet. 2012 waren das 20 Prozent der Bevölkerung, so Ljudmilla Tscherenko vom Kiewer Institut für Demografie und Sozialforschung.
„Wenn der Staat das Anti-Krisen-Programm nicht an ein effektives System koppelt, das bedürftige Gruppen unterstützt, dann könnten bis zu 50 Prozent der Bevölkerung davon betroffen sein“, warnt Tscherenko. Da ein Großteil der Ukrainer von der Hand in den Mund lebt, kann jede Verschiebung im Lebensstandard sofort in bittere Armut führen.
Ein erster großer Brocken der IWF-Vorgaben wurde schon umgesetzt: Zum 1. Mai wurden die Gaspreise um 40 Prozent erhöht, um den maroden Energiesektor zu konsolidieren. Um die sozialen Auswirkungen abzufedern, wird das Programm für Sozialhilfeempfänger ausgedehnt – von derzeit 1,4 auf 4,5 Millionen Haushalte. Sie sollen monatlich bis zu 500 Hrywnja (35 Euro) erhalten, um die höheren Gaspreise zu stemmen.
Die massive Schattenwirtschaft – Experten schätzen sie auf bis zu 30 Prozent des BIP – führe das Sozialsystem in der Ukraine allerdings ad absurdum, kritisiert Tscherenko: „Da kassieren auch viele Sozialhilfe, die in der Schattenwirtschaft ein hohes Einkommen haben. Die soziale Ungleichheit wird durch dieses System nicht bekämpft.“
Viktor bereitet indes etwas anderes Kopfzerbrechen. Der 65-Jährige fährt Taxi, um seine Rente aufzubessern. Die Ukraine-Krise hat die Hrywnja auf Talfahrt geschickt – die Benzinpreise sind um bis zu 50 Prozent gestiegen. Die Taxipreise wurden zwar angepasst, doch das ist denkbar schlecht für das Geschäft.
Früher kostete Brot 20 Kopeken – die Sowjetunion will Viktor trotzdem nicht zurück
Hatte Viktor vor der Krise noch durchschnittlich fünf Fahrgäste pro Tag, sind es heute meist nur noch drei, klagt er. „In der Sowjetunion waren die Renten zwar auch nicht höher, aber die Lebensmittel billiger“, weiß er zu erzählen.
20 Kopeken für das Brot, 10 Rubel für Fleisch – Viktor hat die Preise noch alle im Kopf. Eine Neuauflage der Sowjetunion will er aber trotzdem nicht. „Ich bin ukrainischer Patriot. Und wir hoffen natürlich, dass es irgendwann doch besser wird.“
Auch Sofijas Optimismus ist ungebrochen – trotz aller Widrigkeiten. „Wir können uns zwar keine teuren Auslandsreisen leisten, aber zum Leben reicht das Geld. Was will man mehr? Wir Ukrainer sind ein tüchtiges Volk. Und wir sind es gewöhnt, schwierige Zeiten zu überleben.“