Kampf gegen die Auswanderung
Über die Antwort müssen die 17-jährigen Schülerinnen der Beresovschi-Schule in Chisinau nicht lange nachdenken. Auf die Frage der Lehrerin, wer nach dem Abitur aus Moldau auswandern möchte, hebt sich eine Hand nach der anderen. Rund 70 Prozent der 200 Jugendlichen, die an einem „Anti-Migrations-Training“ in der Schule teilnehmen, wollen nach dem Abschluss ihre Heimat verlassen. Die Schule liegt in Ciocana, dem ärmsten Bezirk der moldauischen Hauptstadt.
Viele von den Schülern haben bereits konkrete Pläne. Vladicia Bulhac will Psychologie in England studieren. Das dunkelhaarige Mädchen spricht perfekt Englisch. Seit fünf Jahren nimmt sie mehrmals die Woche Privatunterricht, der von der ganzen Familie finanziell unterstützt wird. „Meine Eltern wissen, dass es für mich in England eine bessere Zukunft gibt. Und wenn ich dort eine Arbeit finde, werde ich ihnen helfen“, sagt sie.
Ihre Schulfreundin Evelina Sacali will in Rumänien Medizin studieren, sich ein in der EU anerkanntes Diplom sichern – und nach dem Abschluss weiter nach Westen ziehen. Eine Rückkehr in die Heimat kommt für sie nicht in Frage. „Es gibt hier keine Arbeit, und wenn doch, dann verdient man so wenig, dass es sowieso fürs Leben nicht reicht“, meint die Schülerin, deren Vater seit mehreren Jahren in Russland jobbt, um die Familie zu ernähren.
Ein Viertel des moldauischen Bevölkerung ist schon abgewandert
Vladicia und Evelina sind keine Ausnahmen. Etwa ein Viertel der 3,5 Millionen Moldauer verließ in den vergangenen Jahren das Land, um im Ausland ein besseres Leben zu finden. Die meisten zogen nach Russland, Italien, Portugal, Spanien. Sogar die benachbarte Ukraine bietet höhere Löhne als Moldau, wo ein gutes Gehalt umgerechnet rund 200 Euro beträgt. Doch die Realität im Ausland sieht oft anders aus als vorgestellt. Da die Moldauer in der EU eine Arbeitserlaubnis benötigen, werden sie oft als Schwarzarbeiter ausgenutzt. Daran wird wohl auch die Visafreiheit, die ab 28. April für Moldauer im Schengenraum gelten soll, nichts ändern, denn die Hürde Arbeitserlaubnis bleibt.
Wie hoch das Risiko sein kann, weiß Ghenadie Cretu, der Programmkoordinator der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Chisinau. Im Flur vor seinem Büro zeigen Poster, was für Folgen Emigration haben kann: Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden, zerrissene Familien, vernachlässigte Kinder, ausgebeutete Schwarzarbeiter. Moldau gehört auch zu den häufigsten Herkunftsländern der Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel. „Das Leben im Ausland ist nicht einfach“, sagt Ghenadie Cretu. „Und das müssen wir den Menschen in Moldau deutlich vermitteln.“ Dafür fahren seine Mitarbeiter bis in entlegene Dörfer, dorthin, wo die Not am größten ist, um mit den Bewohnern zu sprechen und sie aufzuklären.
Gerade die Gefahren der Auswanderung besprechen auch Lehrer und Pädagogen mit den Schülern der Beresovschi-Schule während des „Anti-Migrations-Trainings“. An dem Unterricht nehmen Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren teil. Organisiert werden die Trainings aus eigener Initiative und auf eigene Kosten.
Für Moldaus Regierung lohnt es sich nicht, die Bürger im Land zu halten
Eine Unterstützung der moldauischen Regierung dafür ist nicht in Sicht. „Wir begrüßen die Emigration“, sagt offen Angela Stafi vom Auslandsamt für die Diaspora in Chisinau, einer Behörde der moldauischen Regierung, die sich um Emigranten kümmern soll. „Die Erfahrungen und Qualifikationen, die von unseren Bürgern im Ausland erworben werden, können nach ihrer Rückkehr nach Moldau helfen, unser Land weiterzuentwickeln“, meint die Beamtin.
Doch die Mehrheit der Emigranten hat gar nicht vor zurückzukommen. Es gibt auch kaum Angebote für Rückkehrer. „Für die moldauische Regierung lohnt es sich einfach nicht, die Emigration zu stoppen“, meint Ghenadie Cretu. „Die Überweisungen aus dem Ausland machen etwa ein Drittel des gesamten Bruttoinlandproduktes der kleinen Republik aus. Und die Regierung ist nicht imstande, diese Lücke mit anderen Mitteln zu schließen.“
„Wer bleibt in Moldau, wenn alle emigrieren wollen?“ – diese Frage sieht man auf einem der Poster im Büro der Internationalen Organisation für Migration. Die gleiche Frage stellt auch eine Pädagogin während des Trainings in der Beresovschi-Schule. Manche Schüler zucken erstaunt mit den Schultern, andere sagen offen: „Ich bestimmt nicht“.