Moldawien

Schritt in Richtung Europa

Vor dem Rathaus in Chisinau flattert die Europaflagge im Frühlingswind. Auch Ministerien, Gerichtsgebäude und die Nationalbibliothek haben den Sternenkranz geflaggt. Moldaus Regierung ist klar auf Westkurs. Mehr Annäherung an Europa wollen auch die beiden Studenten Corina Bezer und Vlad Biletki. Sie fiebern dem 28. April entgegen, denn dann brauchen Bürger der Republik Moldau für Reisen in den Schengen-Raum kein Visum mehr zu beantragen. Ein Aufenthalt ist dann bis zu 90 Tage lang möglich.

„Das ist super“, freuen sich die beiden Wirtschaftsstudenten aus der Hauptstadt, „wir haben so lange gewartet.“ Die Visafreiheit sei „eine große Möglichkeit“, sagt die 19-Jährige Corina Bezer. Nun müssten Reisende nicht mehr Wochen bis Monate auf ein Visum warten.

Für die pro-europäische Regierung in Chisinau ist die Visaliberalisierung ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Als nächstes will Präsident Nicolae Timofti ein Assoziierungsabkommen mit Brüssel unterzeichnen – wenn nach ihm geht, bis Ende Mai. Am Mittwoch reisten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Laurent Fabius nach Chisinau.


Auf keinen Fall soll sich das Ukraine-Szenario wiederholen

Das kleine Land zwischen Rumänien und der Ukraine will Fakten schaffen. Ein EU-Assoziierungsabkommen war Auslöser für die Krise in der Ukraine – der damalige Präsident Viktor Janukowitsch hatte es Ende November wider Erwarten nicht unterzeichnet. Ähnliches soll sich im Nachbarland keinesfalls wiederholen. Auch in Moldau sind die Meinungen geteilt über einen Kurs nach Osten oder Westen.

Moldaus Regierung hofft, dass mehr Menschen so euphorisch auf die Visafreiheit reagieren wie die Studenten Bezer und Biletki. Denn im November wählt das Land ein neues Parlament, und in Umfragen liegen momentan die nach Russland orientierten Kommunisten vorne. Moldau, das als ärmstes Land Europas gilt, könnte eine Protestwahl erleben. Viele sind unzufrieden mit der Regierung, weil die Wirtschaftslage immer noch so desolat ist, dass pro Jahr Hunderttausende ihr Land verlassen.

Mehr als 600.000 der 3,5 Millionen Moldauer arbeiten als Bauarbeiter, in der Pflege oder als Haushaltshilfen in Europa oder in Russland. Nun macht Moskau Druck, um den Westkurs der kleinen Republik zu bremsen, verbietet Weinexporte und droht mit Visapflicht und Ausweisung der Arbeitsmigranten.


Viele Moldauer interessieren sich nicht für Politik – „sie brauchen etwas zu essen“

Die Entscheidung über den Kurs des Landes, Europa oder Russland, sei falsch, sagt Octavian Ticu, Historiker an der Akademie der Wissenschaften und ehemaliger Minister der amtierenden Regierung. Moldau sei schon immer zwischen den beiden Seiten gespalten gewesen. Viele Moldauer interessiere nicht die Frage nach dem politischen Kurs des Landes, bringt es Ticu auf den Punkt: „Die Leute brauchen etwas zu essen.“

Die meisten sehnen sich nach einem besseren Lebensstandard. Das sagt auch die prominente Fernsehmoderatorin Natalia Morar: „Vor der Wahl 2009 glaubten die Menschen, dass das Leben besser wird, wenn die Demokraten an die Macht kommen. Jetzt wissen wir, dass es in einigen Bereichen so ist wie unter den Kommunisten, wenn nicht sogar schlechter.“ Die Menschen wollten neue Jobs, bessere medizinische Versorgung und einen stärkeren Kampf gegen Armut und Korruption. Einen hohen Beamten wegen Korruption anzuklagen, glaubt Morar, würde der Regierung genau so viel Zuspruch im Volk bescheren wie die Visafreiheit.

Für manche Beobachter ist die Aufhebung der Visapflicht ohnehin vor allem Kosmetik. Mindestens 400.000 Moldauer besitzen längst einen Pass der rumänischen Nachbarn, können also schon ohne Visum nach Europa reisen. Anderen im Land fehlt hingegen noch der notwendige biometrische Reisepass. Kurzum: Für viele werden die Veränderungen zunächst überschaubar bleiben, auch eine Welle der Armutsmigration nach Europa erwartet in Chisinau niemand. Student Vlad Biletki aus Chisinau freut sich indes auf seine erste Reise ohne Visum, er kennt auch schon sein Ziel: Deutschland. „Ich will das Brandenburger Tor sehen“, sagt er.


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