Russland

Ukraine-Krise: Jucken im amputierten Arm

    
Jelena Kostjutschenko, geboren 1987 
ist eine der bekanntesten Autorinnen 
der „Nowaja Gaseta".

Meine Mutter schaut seit einer Stunde und zwanzig Minuten auf den Bildschirm, und ich bekomme Schüttelfrost. Es gibt nur ein Thema: Ukraine. Die Phrasen des Hauptpropagandisten des Landes, Dimitri Kisseljow, dem Generaldirektor der Nachrichtenagentur Rossija Segodnja, werden fast wörtlich von einer jungen Frau mit schwerem Blick wiederholt. Ich habe keinen Fernseher, wie viele Bewohner Russlands in meinem Alter, doch meine Mutter hat einen. Die vergangenen zwei Wochen konnte sie sich kaum davon losreißen. Der Laptop, den ich ihr vor zwei Jahren kaufte, wird nicht eingeschaltet.


Schweigegelübde über die Krim

Meine Mutter findet, dass mir mein Land egal ist. Das tut weh. Es ist lächerlich, wenn sie sagt, ich würde für „Söldnerlohn aus dem Westen“ arbeiten, sie weiß doch gut Bescheid über meine Einkünfte. Das Schlimme ist: Bei allen meinen Freunden und deren Eltern herrscht eine ähnliche Situation. Bei allen. Die Klügsten haben es geschafft, Zuhause ein Schweigegelübde über die Themen Krim und Ost-Ukraine zu verhängen. Die anderen leiden.

Аls ein Freund von mir zu einer Antikriegs-Aktion in Moskau ging, hinterließ seine Großmutter ihm einen langen Brief auf dem Küchentisch: „Treib’ Sport, mach’ Musik, und mach’ uns keine Schande!“ Sie sprechen nicht miteinander. Eine Freundin hat sich mit ihrem schwerkranken Vater zerstritten, als er ihre ukrainischen Freunde „Faschisten“ nannte: „Ich konnte nicht schweigen.“ Jetzt muss sie weinen, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was tun, damit es aufhört.


Phantomschmerz der UdSSR

Man könnte sich das als Phantomschmerz der UdSSR vorstellen, ein Jucken in einem vor langer Zeit amputierten Arm. Unsere Eltern wurden in einem Imperium geboren, sie wuchsen dort auf und plötzlich fanden sie sich in einem fremden Land wieder.

Aber es geht nicht nur um Emotionen, da ist auch kalte Berechnung dabei. Sie haben keine Angst vor Sanktionen – sie überlebten das sowjetische Versorgungsystem, den Hunger der 90er Jahre. Derartige Zustände können Europa und die USA nicht in die Wege leiten. Unsere Eltern haben keine Angst vor Schwierigkeiten – das Ziel ist es wert. Meine Mutter sagt: „Es ist wie ein Immobilienkauf. Zuerst ist es schwierig, aber dann macht sich alles bezahlt. Deine Kinder werden für die Krim dankbar sein.“ An einen Krieg glaubt sie nicht. Niemand glaubt an einen Krieg.

Dennoch: Es ist nicht ganz ein Generationenkonflikt. Viele Kinder sind dieser Tage mit ihren Eltern solidarisch. Viele freuen sich sogar. Aber diese Freude ist angefüllt mit Hass auf jene, die sie nicht empfinden.


Angst vor Russland und vor der Ukraine

Die Hälfte meiner Verwandten lebt in der Ukraine, in einem Dorf tief in der Provinz. Meine Mutter ruft sie an und bittet sie, nach Russland zu kommen: „Wir werden euch beschützen.“ Im Dorf selbst passiert rein gar nichts, aber meine Verwandten werden auch von der TV-Wirklichkeit zerrissen: Die Sender aus Kiew sprechen von russischen Militärs, die über ukrainische Erde marschieren, die Sender aus Moskau erzählen von Bandera-Anhängern, die Jagd auf die russische Bevölkerung machen. Im Dorf hat man gleichzeitig vor beiden Angst – vor Russland und vor der Ukraine.

Vielleicht fehlt mir irgendeine Emotion, welche die Widerwärtigkeit dieser Tage in Jubel verwandeln könnte. Ich sehe im Fernsehen, wie meine Landsleute eine Badewanne aus dem brennenden Haus eines Nachbarn heraustragen. Ich sehe, wie meine Brüder in den Taschen eines Menschen wühlen, der auf dem Boden liegt. Und ich soll dankbar sein, denn ich profitiere ja auch davon. Wir, die „Sensibelchen“ (noch ein Wort meiner Mutter), sind eine Minderheit. Sind wir im Unrecht?

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost


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