Wenn Armut krank macht
Maria Curmei hat aufgeräumt. Ihr kleines Haus im moldauischen Dorf Valcinet könne jetzt den Frühling empfangen, sagt sie. Die Wände sind mit einer Blumentapete beklebt, die so alt seit könnte wie die dünne, angeschlagene Frau mit dem braunen Kopftuch. Das Ausziehsofa unter der Ikone an der Wand stammt noch aus Sowjetzeiten.
Vor einem Jahr, als sich die 43-Jährige wieder einmal krank fühlte, sagte ihr der Arzt, dass sie an einer fortgeschrittenen Form von Tuberkulose leidet. Wochenlang wurde sie in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Chisinau behandelt. „Es ist sehr spät, aber nicht zu spät“, sagten ihr die Ärzte. „Sie meinten, ich müsse mich schonen und gut ernähren. Doch wie soll ich mir das leisten?“, fragt die Bäuerin und aus ihren großen Augen schießen die Tränen.
Ähnlich wie Maria Curmei geht es mehreren tausend Moldauern: Die Krankheit, die die meisten Europäer eher aus Geschichtsbüchern kennen, fordert hier nach wie vor Opfer. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO meldet die Republik Moldau jährlich rund 160 Tuberkulosefälle pro 100.000 Einwohner – ein trauriger europäischer Rekord.
In der Gesundheitsversorgung mangelt es Moldau an allem
Seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 hat sich die Gesundheitsversorgung stets verschlechtert – ein weiterer Grund, warum die Infektionskrankheit wieder auf dem Vormarsch ist. Versuche, die Pandemie einzudämmen, waren bisher nur mäßig erfolgreich.
Die kleine Republik gilt seit Jahren als ärmstes Land Europas und der Mangel an allem erschwert die Vorbeugung und Behandlung der ansteckenden Krankheit, die das Lungengewebe zerstört und unbehandelt innerhalb von zwei bis fünf Jahren zum Tod führen kann.
Es herrscht Tauwetter in Valcinet. Die Dorfbewohner sammeln die letzten Herbstzweige, die in ihren Gärten unter dem Schnee überwintert haben und die sie jetzt für ein paar Tage zum Heizen verwenden. Die Grenze zu Rumänien, und damit zur Europäischen Union, liegt kaum 50 Kilometer westlich. Trotzdem scheint Valcinet weit von Europa entfernt: Seit dem Zerfall der Sowjetunion versinkt der kleine Ort immer weiter in Armut und Perspektivlosigkeit.
Die Eltern von Maria Curmei haben noch auf einer Kolchose gearbeitet, nach der Wende aber löste sich diese auf. Die vernachlässigte technische Infrastruktur wurde schnell zerstückelt, abgeschleppt und als Altmetall verkauft. Die wenigen asphaltierten Straßen, die es Anfang der 1990er Jahre gab, sind mittlerweile fast nicht mehr befahrbar.
„Fast jeder zweite Nachbar ist ausgewandert“, stellt Curmei fest. „Alle sind arbeiten gegangen: nach Russland, nach Italien oder Spanien.“ Beinahe ein Drittel der gesamten moldauischen Bevölkerung arbeitet im Ausland, die Überweisungen an die Daheimgebliebenen machen die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus.
Viele, die nicht gehen wollen oder können, bauen ihr Gemüse selbst an und leben von der Hand in den Mund. Der Alkoholmissbrauch ist sehr verbreitet, auch Maria Curmei und ihr Mann waren lange davon betroffen. Doch selbst abgesehen davon hätte niemand in der Familie eine Chance, seine Existenz von einem regelmäßigen Einkommen zu bestreiten: Was das kleine Grundstück an Mais und Kartoffeln hergibt, reicht, wie Maria Curmei sagt, „nur für ein halbes Abendessen“.
Die Diagnose Tuberkulose habe ihr Leben verändert, fügt Maria Curmei hinzu und setzt sich auf ihr altes Sofa. Sie habe sich gefragt, was sie tun kann. Sie habe viel geweint. Sie tue jetzt mehr für ihre zwei Söhne, Gheorghe und Vasile, die zur Schule gehen und noch gesund sind.
Medikamente holen geht nur im Sommer oder bei Schnee
In Valcinet gibt es seit Sowjetzeiten einen Versorgungspunkt, an dem eine Krankenschwester stationiert und ab und an sogar ein Arzt anzutreffen ist. Doch weil die Wege im Dorf lang und ohne einen Geländewagen eigentlich nur im Sommer oder bei Schnee befahrbar sind, kann Maria Curmei ihre Medikamente nicht immer rechtzeitig besorgen.
Trotz der internationalen Hilfe, die die Republik Moldau vor allem vom „Global Fund“ bekommt, dem Globalen Fonds für die Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria, ist in den vergangenen Jahren die Zahl der TB-Infektionen konstant geblieben. „Wir tun, was unser Budget erlaubt“, heißt es aus dem Gesundheitsministerium in Chisinau. Doch das Problem ist massiv und hat oft mit mangelnder Ernährung und unzureichendem, schlecht geheiztem Wohnraum zu tun, wie die WHO betont.
Oft sei die Erkrankung nur ein Symptom extremer Armut, die Staat und Bürger gleichermaßen betrifft. Alkohol- und Drogenmissbrauch schwächen ebenfalls das Immunsystem. Laut der WHO wird mittlerweile in den Krankenhäusern der Großstädte nur noch mit Einwegspritzen gearbeitet, dennoch ist die Übertragung von Erregern durch verunreinigte medizinische Instrumente oder geteilte Spitzennadeln, auch von HI-Viren, häufig.
Die Krise hat Erfolge der letzten 20 Jahre zunichte gemacht
Gerade wenn die Menschen bereits krank - und zudem noch Alkohol- oder drogenabhängig sind, ist die Sterblichkeitsrate sehr hoch. Am höchsten ist sie in der Stadt Balti, rund 150 Kilometer nördlich von Chisinau. Von den 140.000 Einwohnern leiden fast 900 an einer Form von Tuberkulose. An den Folgen von TB sterben hier jährlich 80 Personen. „Das sind Zahlen, die wir zuletzt in den 1990er Jahren hatten, als die Wirtschaftslage am schlechtesten war“, erklärt Raisa Barbuta. Die Ärztin leitet die Tuberkulose-Klinik in Balti.
„Die Statistiken hatten sich nach der Jahrtausendwende kurz verbessert, doch jetzt sind wir wieder da, wo wir vor 20 Jahren waren“, bedauert die Ärztin. Grund dafür sei auch die Wirtschaftskrise in vielen westeuropäischen Staaten, wie Spanien oder Italien, wo besonders viele Moldauer ihr Geld beispielsweise als Bauarbeiter verdienen.
Seit der Krise verdienen sie dort weniger und können auch weniger Geld in die Heimat überweisen. „Für viele Familien hier bedeutet das weniger essen oder nicht mehr heizen können“, stellt die Klinikchefin fest.
Barbutas Hoffnungen liegen nun auf einer Annäherung Moldaus an die Europäische Union: Anders als die Ukraine hat die Regierung in Chisinau dem Assoziierungsabkommen mit der EU bereits zugestimmt. Eine Unterzeichnung ist für diesen Sommer geplant. Im Gegenzug will Brüssel moldauische Staatsbürger von der Visapflicht befreien.
Viele Moldauer hoffen, dass die EU dann eine gewisse Verantwortung für die Verbesserung der desolaten Lage übernimmt. „Europa könnte uns vielleicht helfen, hier im Dorf endlich die Straßen zu asphaltieren“, hofft Maria Curmei aus Valcinet. Dann könnte sie nämlich regelmäßig zum Versorgungspunkt fahren und ihre Medikamente kaufen.