„Die Ukrainer kämpfen für unser aller Freiheit“
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ostpol: Wie sind die Reaktionen in Belarus auf die Ereignisse in der Ukraine?
Andrej Sannikau: Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Belarussen haben auf dem Maidan Seite an Seite mit den Ukrainern gekämpft. Unter den ersten Opfern auf dem Maidan war der junge Belarusse Michail Schisnewski. Die Ukrainer kämpfen nicht nur für ihre, sondern für unser aller Freiheit, der Belarussen, Russen und Europäer. Und trotz Repressionen gehen Belarussen auf die Straßen, um ihre Solidarität mit der Ukraine auszudrücken und gegen die russische Aggression zu protestieren.
Denken Sie, dass das auch die Situation in Belarus beeinflussen wird?
Sannikau: Wir müssen jetzt alles tun, damit der Sieg der Ukrainer nicht vom Kreml sabotiert wird. Für Belarus ist das wichtig, weil das Land eine von Moskau gestützte und finanzierte Diktatur ist. Unsere Unabhängigkeit ist zerbrechlich. Jede Aktion, die die ukrainische Unabhängigkeit ernsthaft bedroht, bedroht auch unsere Unabhängigkeit.
Halten Sie einen „Euromaidan“ in Belarus für realistisch?
Sannikau: Ich sehe den Maidan als Teil einer Gesamt-Bewegung in der Region: Nehmen wir Belarus im Dezember 2010, als wir gegen Wahlfälschung protestiert haben. Oder die russischen Proteste im Dezember 2011, oder der „Marsch der Millionen“2012 in Moskau(deren Organisatoren wurden zuletzt im Bolotnaja-Prozess verurteilt, Anm.). Der Widerstand gegen korrupte, brutale und repressive Regime wächst. Und dieser Weg führt klar über Europa.
Ist die Politik von Viktor Janukowitsch mit der von Alexander Lukaschenko vergleichbar?
Sannikau: Lukaschenko ist seit 20 Jahren im Amt und konnte seine Macht Schritt für Schritt ausbauen. Eigentlich kopieren Putin und Janukowitsch das Lukaschenko-Modell. Lukaschenko hat die Wahlen 2010 verloren und nicht mal mit der Wimper gezuckt, die Opposition brutal niederzuschlagen und Präsidentschaftskandidaten – inklusive mir –ins Gefängnis zu werfen. Janukowitsch hatte einfach nicht genügend Zeit, mit demokratischen Institutionen und unabhängigen Medien aufzuräumen.
Zur Person: Andrej Sannikau
Belarussischer Diplomat und Oppositioneller. Sannikau trat bei den Präsidentschaftswahlen 2010 gegen den Amtsinhaber Alexander Lukaschenko an. OSZE-Wahlbeobachter bezeichneten die Wahl als nicht demokratisch, Lukaschenko gewann die Wahl mit knapp 80 Prozent der Stimmen. Noch am Wahlabend des 19. Dezember kam es zu Demonstrationen gegen Wahlfälschung, an denen auch Sannikau teilnahm. Sannikau wurde festgenommen und wegen „Organisation von Massenunruhen“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im April 2012 kam er frei. Er lebt derzeit in Warschau im Exil.
Janukowitsch hat sich dieser Tage bei den Ukrainern entschuldigt, dass er nicht stark genug war, das Chaos in Kiew zu beseitigen. Man hatte das Gefühl, diese Aussage war gar nicht mehr für die Ukrainer, sondern für Russland, oder aber auch für Belarus bestimmt. Wie sehen Sie das?
Sannikau: Über das Interview brauchen wir gar nicht zu reden. Aber was danach passiert ist – also die Krim-Invasion – hat ganz klar gezeigt, wer hinter dem Interview steckt. Janukowitsch hat sich selbst zum Feind der Ukrainer gemacht. Aber ich gebe Ihnen recht: Die Aussage ist ganz klar und auch für Belarus und den Westen bestimmt: Weil wir so schwach sind, kann Putin machen, was er will.
Wie bewerten Sie die Rolle der EU in der Ukraine?
Sannikau: Die Menschen am Maidan haben tapfer für europäische Werte gekämpft. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis sich die EU zu Entscheidungen durchgerungen hat. Erst, als Menschen gestorben sind. Belarus kennt diese Politik nur zu gut: Diktatoren handeln eben effizienter, sie treffen Entscheidungen und schlagen zu, in dem Wissen, dass der Westen einfach zu bürokratisch ist, um schnell zu handeln.
Welche Lehren kann die EU daraus für ihren Umgang mit Belarus ziehen?
Sannikau: Die EU hätte aus der Lage in Belarus schon lange seine Lehren ziehen müssen. Nehmen wir die Präsidentschaftswahlen 2010: Analysten und Politiker der EU waren sich sicher, dass Lukaschenko gewinnen wird, dass die Opposition zu schwach ist. Nach den Protesten und der Niederschlagung am 19. Dezember 2010 waren sie dann plötzlich überrascht. Die Situation in Belarus hätte schon zuvor ernsthaft angegangen werden können, aber es ist nicht passiert. Wie willst du den Bären schnappen, wenn du nicht mal die Ratte kriegst?
Was würden Sie sich von der EU und den USA wünschen?
Sannikau: Dasselbe, was in der Ukraine jetzt passieren sollte: Alle Kräfte gegen die Diktatur zu bündeln, statt Appeasement-Politik. Alle internationalen Ressourcen zu nutzen, um das Land vor einer russischen Aggression zu schützen und die ökonomischen Schwierigkeiten zu beseitigen.