Reporter auf dem Maidan: Der Moment des Begreifens
Im Dezember habe ich aus Kiew berichtet, im Januar wieder. Jedes Mal wurde das Gewaltpotenzial größer. Im Dezember war es für die Menschen auf dem Maidan noch skandalös, dass die Polizeieinheiten auf sie eingeprügelt hatten. Sie sagten: „So etwas hat es in der Ukraine noch nie gegeben – wir sind ja nicht Russland!“
Bei meinem zweiten Besuch im Januar waren gerade die schweren Zusammenstöße auf der Gruschewski-Straße vorbei: Es hatte mehrere Tote gegeben, und jetzt standen sich Polizei und Regierungsgegner schon unversöhnlich gegenüber und bewarfen sich mit Steinen, Molotowcocktails und Blendgranaten. Aber es gab doch Grenzen der Gewalt.
Freiheit oder Tod
Jetzt ist die Lage außer Kontrolle: Beide Seiten besitzen Waffen – und die letzten Tage haben gezeigt, dass sie bereit sind, sie einzusetzen.
Der Moment in dem ich begreife, dass etwas wirklich Unvorstellbares passiert, ist an diesem Donnerstag morgen, um kurz vor zehn Uhr: Ich stehe am Fenster im Treppenhaus im 13. Stock des Hotels „Ukraina“, in dem ich untergebracht bin, am oberen Ende des Maidan. Völlig unerwartet hatten die Regierungsgegner kurz zuvor die Barrikaden gestürmt, in Panik zieht sich die Polizei zurück in Richtung Regierungsviertel, schießt im Wegrennen auf die Regierungsgegner, die ihr brüllend nachsetzen. Es war überraschend, aber man hatte solche Szenen schon im Januar gesehen.
Das wirklich Neue, das wirklich Schlimme folgt dann: In kleinen Gruppen aus zwei, drei Mann, geschützt mit Schilden aus Holz oder Metall, bewegen sich die Regierungsgegner auf die nächste Barrikade zu, es scheint, als hätte sich die Polizei auch von dort zurückgezogen. Aber dann fallen Schüsse, und die Menschen mit den Schutzschilden brechen zusammen. Einige schleppen sich zurück, andere bleiben reglos liegen.
Das Schockierendste aber: Auf sie folgen weitere. Obwohl klar ist, dass sie in den sicheren Tod gehen, dass sie den Scharfschützen völlig schutzlos ausgeliefert sind, dringt eine Gruppe nach der anderen voran und wird zusammengeschossen. Der Slogan „Freiheit oder Tod“, der in den ersten zwei Monaten des Maidans trotz der gewalttätigen Zusammenstöße noch etwas zu pathetisch klang, ist nun Realität. Die Menschen auf dem Platz sind bereit, im Kampf gegen das Regime zu sterben und zu töten. Am Donnerstag sehe ich Dutzende von ihnen mit Jagdgewehren und Pistolen. Sie ziehen durch das Hotel und kontrollieren Zimmer für Zimmer, weil sie vermuten, dass sich hier noch Scharfschützen verstecken.
„Keine Angst, das ist recht übersichtlich“
Der Tod ist plötzlich ganz nah. Regierungsgegner mit todesbleichen, blutverschmierten Gesichtern liegen im Foyer des Hotels. Und er klafft in Form eines Einschusslochs im Fenster des Treppenhauses im 13. Stock. Der Schuss eines Scharfschützen hatte mich am Donnerstagmorgen um einen guten Meter verfehlt.
Am Abend ist es ruhiger geworden, seit 20 Uhr sind keine Verletzten mehr eingeliefert worden. Aber es bleibt ein Gefühl der Ungläubigkeit. Ein bewaffneter Konflikt in der Ukraine? In diesem Land, das einem manchmal wie ein etwas chaotischeres, etwas europäischeres, etwas netteres Russland vorkam, über dessen politische Elite man sich amüsierte, weil sie sich regelmäßig im Parlament prügelte und vor allem mit inneren Streitigkeiten beschäftigt schien, über dessen lebendige Musikszene man sich freute, weil sie sich aus so vielen Einflüssen speist.
Und nun – Szenen wie in Jugoslawien in den neunziger Jahren? Aber womöglich waren Jugoslawien-Kenner ja ebenso überrascht über die ungebändigte Gewalt, die sich da plötzlich Bahn brach. Vielleicht ist die Ungläubigkeit auch der eigenen mangelnden Vorstellungskraft geschuldet. Wenn ich nach Kiew aufbrach in den letzten Wochen, sagte ich zu Familie und Freunden: „Keine Angst, das ist recht übersichtlich.“ Die Szenen, die ich heute aus dem 13. Stock meines Hotels beobachtete, haben mir gezeigt, dass die Wirklichkeit schlimmer sein kann als ich mir vorstellen wollte.