Ukraine

Blutbad in Kiew

Es ist neun Uhr morgens am Donnerstag, als in Kiew die Grenze überschritten wird. Die Grenze, das sind die Barrikaden aus Steinen, aus brennendem Holz und Autoreifen, die seit dem blutigen Dienstag Polizeieinheiten und Demonstranten auf dem Maidan voneinander trennten.

Es war nicht friedlich seit dem Dienstag, aber es schien sich ein Status Quo zu halten: Die Demonstranten werfen mit Steinen und Molotowcocktails, die Polizei antwortet mit Blendgranaten und Wasserwerfern. In der Nacht zu Donnerstag, nachdem Präsident Janukowitsch und die Oppositionsführer eine Waffenruhe erklärt hatten, war es sogar etwas ruhiger geworden.


Im Foyer des Hotels „Ukraina“ liegen Leichen

Doch dann beginnt eine auch nach all den Gewalttaten der vergangenen Wochen bislang unvorstellbare Szenerie. Die Maidanaktivisten rücken am Donnerstagmorgen in kleinen Gruppen aus zwei oder drei Mann, geschützt von Schilden, in Richtung der nächsten Barrikade vor. Dann fallen sie zu Boden und bleiben reglos liegen, von den Kugeln der Scharfschützen getroffen. Der Kampf ist ungleich, und doch wiederholen sich die Szenen stundenlang. Auf der Bühne des „Maidan‟ rufen die Redner die Menschen auf, nicht mehr auf den Hügel neben dem Hotel „Ukraina‟ vorzudringen, aber vergebens.

Im Hotel selbst wächst dagegen die Zahl der Toten und Verletzten. Im Foyer liegen am frühen Nachmittag zwölf Leichen, von Tüchern bedeckt. Der Boden im rechten Teil des Foyers ist blutverschmiert, immer wieder werden Verletzte hereingetragen.

Durch die oberen Etagen des Hotels ziehen derweil mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Maidanaktivisten, auf der Suche nach Scharfschützen, die angeblich immer noch aus einem Zimmer des Hotels auf die Menschen schießen. Auf dem 14. Stock ballern sie in Richtung der Barrikade auf der Institutska-Straße, wo sie die Scharfschützen vermuten. Deren Antwort folgt prompt: Ein Schuss, eine Glasscheibe zersplittert. Gottseidank wird niemand verletzt.


Scharfschützen auf beiden Seiten

Praktisch kampflos haben die Demonstranten die Gruschewski-Straße zurückerobert, jene im Januar so schwer umkämpfte Zufahrtsstraße zur Regierung und zum Parlament. Erst gestern hatte die Polizei hier aus massiven Betonklötzen eine Straßensperre errichtet – sie ist nun in der Hand der Demonstranten. Etwa zweihundert Meter die Straße hinauf blockieren Lastwagen und Busse die Durchfahrt. Von Polizeieinheiten ist weit und breit nichts zu sehen, aber auf dem Dach des Regierungssitzes sind mehrere Schemen auszumachen, vermutlich Scharfschützen. Die Szene ist gespenstisch: Jeder weiß, dass diese Scharfschützen jederzeit das Feuer eröffnen könnten. Noch gestern wäre das unwahrscheinlich gewesen. Seit diesem Morgen ist alles möglich.

Auch Demonstranten sind inzwischen mit Gewehren und Pistolen bewaffnet und haben in den vergangenen Tagen Gebrauch davon gemacht. Und offenbar arbeiten auch auf ihrer Seite Scharfschützen. Es könnten Veteranen des Afghanistan- oder des Tschetschienkriegs sein.

Beim Sturm am Donnerstagmorgen wurden auch 60 Wehrdienstpflichtige der Innenministeriumstruppen gefangengenommen. Sie sitzen jetzt mit müden Gesichtern in einem Verwaltungsgebäude am Maidan, bewacht von Aktivisten. Ihr Kommandeur Timur Zoj berichtet, dass er am Mittwochabend zwei Offiziere durch Schüsse verloren hat. „Es waren Kugeln vom Kaliber 16, aus Plastik mit Stahlspitzen. Damit macht man eigentlich Jagd auf Wildschweine‟, erklärt er. Dass die Schüsse in den Hals trafen – wo die Soldaten nicht geschützt sind – erhärtet für ihn den Verdacht, dass es sich um professionelle Scharfschützen gehandelt hat.


Die Toten sind auf Decken aufgebahrt

„Jetzt gibt es nur noch eines: Janukowitsch stürzen, und dann seine ganze Bande vor ein Tribunal‟, sagt Alexander Rossoschanskij, ein Mann um die 50, am Nachmittag auf der Gruschewski-Straße. Der Eisenbahner aus der Stadt Winniza sieht die Grenze endgültig überschritten, auch für sich selbst: „Ich bin bereit, hier zu sterben.‟

Dabei sind am Donnerstag schon so viele gestorben. Sie liegen rund um den Maidan, an der Barrikade auf der Kreschatik-Straße etwa sind acht von ihnen auf Decken aufgebahrt, die Gesichter bleich, zum Teil blutverkrustet. Auf jedem Körper liegt eine weiße Rose, die vorübergehenden Menschen halten kurz inne und bekreuzigen sich, andere weinen. Von der Bühne schallen die Gesänge von Priestern herüber.

Was vor genau drei Monaten mit friedlichen Protesten für eine Annäherung an die EU begonnen hat, hat sich am Donnerstag endgültig in einen bewaffneten Konflikt verwandelt, ein Konflikt zwischen dem Regime und seinen Gegnern. Beide Seiten sind bereit.


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