Pflastersteine für die Frontlinie
Einige hundert Polizisten stehen am Mittwochnachmittag den rund zweitausend bewaffneten Maidan-Aktivisten gegenüber. Geschäfte, Banken und Cafés im Umkreis von einem Kilometer sind geschlossen, die gesamte Kiewer Metro fährt am Mittwoch nicht. Es herrscht ein nicht erklärter Ausnahmezustand. Aber die Polizei kontrolliert die Situation, hält die Aktivisten in Schach.
Die Demonstranten werfen Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails, die Polizei antwortet mit Blendgranaten und Gummigeschossen. Von der Bühne auf dem Maidan erklingen Gebete von Priestern und verzweifelte Aufrufe zur Verteidigung. Der Ruf „Kiew erhebe Dich‟ schallt über den Platz.
Die Menschen wollen Ergebnisse
Die 28-jährige Tanja aus dem Gebiet Wolhynien ist in der Nacht zum Mittwoch nach Kiew gekommen, zum vierten Mal seit Beginn der Proteste. „Ich habe den ganzen Tag ferngesehen, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin mit Freunden losgefahren‟, sagt die junge Frau. Sie wühlt ein paar Meter von den brennenden Barrikaden in einem Sack, aus dem sie einen Schutzhelm zieht, den sie sich aufsetzt. „Wenn ich hier auf dem Maidan bin, hat das Leben einen tieferen Sinn‟, sagt sie. „Die Menschen stehen seit drei Monaten hier, und sie wollen Ergebnisse. Zur Not mit Gewalt.‟
Am Dienstag war der von der Opposition als „friedlicher Marsch‟ aufs Parlament angekündigte Demonstrationszug in eine blutige Straßenschlacht gemündet. Dabei wurden nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums 16 Demonstranten und neun Polizisten getötet. Die Opposition wollte die Abgeordneten der Regierungspartei dazu bringen, einen Antrag über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 abzunicken. Zuvor hatten die Zeichen kurz auf Entspannung gestanden, als Präsident Viktor Janukowitsch alle inhaftierten Demonstranten freigelassen hatte.
Ein Einknicken vor der so aufgebauten Drohkulisse wäre einer Kapitulation gleichgekommen. Die Staatsgewalt schlug brutal zurück und trieb die Demonstranten zurück auf den Maidan. Präsident Viktor Janukowitsch beschuldigte die Opposition, mit dem Aufruf zum „Marsch auf das Parlament‟ eine Grenze überschritten und die Gewalt provoziert zu haben.
Das Gewerkschaftshaus ist ausgebrannt
Jetzt stehen die Verteidiger des Maidan mit dem Rücken zur Wand. Neben der Bühne flackert im „Gewerkschaftshaus‟ immer wieder Feuer auf – die meisten Etagen sind ausgebrannt. Bis vor kurzem war das Haus Rückzugsort für die radikalsten Aktivisten wie den „Rechten Sektor‟. Vor dem Eingang des Hotels „Ukraina‟ am oberen Ende des Maidan ruhen sich die Polizisten der Spezialeinheit „Berkut‟ sowie die Soldaten der Innenministerium-Truppen aus. Im Unterschied zu den „Berkutowzy‟ sind es 18, 19 Jahre alte Jungs, die ihren Wehrdienst ableisten. Ihre Gesichter unter dem Ruß sind bleich, man sieht ihnen den Schrecken über die Gewalt an, in die sie nun geraten sind.
Andrej, ein 29 Jahre alter Offizier aus Lugansk, befehligt eine Einheit dieser Wehrdienstleistenden, „Srotschniki‟ genannt. Ginge es nach ihm, hätten die Ordnungskräfte den Maidan am Dienstag aufgelöst, mit einer organisierten Attacke von allen Seiten gleichzeitig. Er ist seit zwei Monaten im Einsatz und will, dass alles bald zu Ende geht. „Ich kämpfe hier nicht für Janukowitsch, aber auf der anderen Seite gibt es gewalttätige Nazis, mit denen man nicht verhandeln kann.‟ Andrejs Einheit stand am Dienstag an der Schowkowitschna-Straße, als sie von den Demonstranten attackiert wurde. Damit begann die Gewalt.
Pflastersteine für die Frontlinie
Dort stand zur gleichen Zeit auch der Physiker Anatoli Liptuga. „Ich merkte, dass mir mein Herz Probleme machte und fuhr nach Hause. Aber die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, sondern vor dem Fernseher gesessen‟, sagt der 64-Jährige. Liptuga und sein Freund Sergej Pjazko sind mit ihren Vollbärten und Brillen das Ebenbild sowjetischer Intellektueller. Aber seit dem frühen Mittwochmorgen tun die beiden etwas Unintellektuelles: Mit einer Eisenstange zerhacken sie abwechselnd Pflastersteine zu handlichen Brocken, die von einer älteren Frau in einen Sack geworfen und an die Frontlinie getragen werden.
„Zwei Monate standen wir friedlich. Aber es passierte nichts‟, erklärt Anatoli Liptuga. So rechtfertigt er auch den gestrigen Marsch auf das Parlament. Und deshalb kann er auch über die Aufrufe der europäischen Politiker, die Krise „im Rahmen der Gesetze‟ zu lösen, nur müde lächeln. „Dieses Regime werden wir mit irgendwelchen gesetzlichen Methoden nicht mehr los‟, ist er überzeugt.