Blutige Proteste in Kiew
Der Tag beginnt mit dem Auszug der Demonstranten vom Maidan-Platz: Über die bislang nicht besetzte Institutska-Straße ziehen mehrere Tausend von ihnen hinauf in Richtung Parlament, die Rada. Angeführt wird der „friedliche Ansturm auf die Rada‟, wie die radikale Opposition ihn nennt, von den Parteiführern Arsenij Jazenjuk und Oleh Tjahnybok.
Am Vormittag haben die Demonstranten das Parlament umzingelt, hunderte attackieren zudem die Zentrale der Partei von Präsident Viktor Janukowitsch mit Molotowcocktails und Pflastersteinen. Die Zahl der Verletzten geht gegen Nachmittag in die Hunderte, Sprecher des Maidans berichten von Todesfällen unter den Demonstranten.
Neues Gewaltniveau
Zur gleichen Zeit berichtet das Innenministerium, fünf Polizisten hätten Schusswunden von Seiten der Demonstranten erlitten. Das ist nicht unwahrscheinlich: Der „Rechte Sektor‟ hatte zuvor auf seiner Internetseite alle Ukrainer mit Schusswaffen ins Zentrum Kiews gerufen. Die Gewalt scheint nun plötzlich ein neues Niveau zu erreichen.
Das ist die Drohkulisse, vor der die Sitzung des Parlaments an diesem Dienstag beginnt. Dort haben die Abgeordneten der Opposition gleich zu Beginn die Rednertribüne besetzt. Sie fordern die Rückkehr zur Verfassung von 2004, hier und heute. Doch die Abgeordneten der „Partei der Regionen‟, ohne deren Stimmen das Dokument nicht verabschiedet werden kann, verlassen einfach den Sitzungssaal.
Sie hätten einen Vorschlag erarbeitet, den die Hälfte der „Regionalen‟ unterstütze, erklärt am Mittag Inna Bogoslowskaja, die Ende November aus der „Partei der Regionen‟ ausgetreten war, den Rückzug der Regierungspartei. Sie wüssten schlicht nicht, wie sie nun reagieren sollten. Wenn wir heute keine Entscheidung herbeiführen, wird nachts das Parlament brennen‟, prophezeit sie.
Die Opposition hat die Demonstranten nicht mehr im Griff
Die Eskalation der Lage kommt für die meisten völlig überraschend, weil die Entwicklung der vergangenen Tagen auf Entspannung und Kompromiss hindeutete. Erst am vergangenen Sonntag hatten die Demonstranten das Kiewer Rathaus verlassen und eine Durchfahrt auf der besetzten Gruschewski-Straße geschaffen – daraufhin konnte das im Januar verabschiedete Amnestiegesetz in Kraft treten.
„Die Menschen auf dem Maidan wollen den Sieg‟, sagt der Politologe Wladimir Tsybulko. Eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 und eine wirtschaftliche Erholung hätte dem Regime eine Atempause verschafft. Aber offenbar sei Janukowitsch dazu nicht bereit.
Die Umzingelung des Parlaments, so Tsybulko, sei zweifellos von der parlamentarischen Opposition ausgegangen. „Viele auf den Barrikaden und in den Selbstverteidigungseinheiten gehören den Oppositionsparteien von Tjahnybok und Jazenjuk an‟, so Tsybulko.
Alexander Daniljuk, Führer der radikalen Bürgerbewegung „Spilna Sprawa‟ (Gemeinsame Sache), die in den vergangenen Wochen mehrere Ministerien besetzte, meint jedoch, dass die Menschen auf dem Maidan von den politischen Führern schon lange nicht mehr kontrolliert würden. „Die Kompromisse mit dem Regime waren ein großer Fehler‟, sagt er. „Und das, was wir heute auf der Straße sehen, ist die Reaktion darauf.‟ Am Ende könnten keine faulen Kompromisse stehen, sondern nur eines: „Der Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen. Sonst kann es für all jene, die jetzt auf dem Maidan stehen, keine Sicherheit geben.‟