Ukraine

System der Selbstzerstörung

Wer annimmt, in der Ukraine ginge es heute um Straßenschlachten, der irrt gründlich. In der Ukraine gibt es keine Straßenschlachten. In der Ukraine findet gerade ein Krieg statt, ein Krieg der Staatsmacht gegen die Bevölkerung, und dieser Krieg wuchert immer weiter aus. Es ist ein Krieg gegen das eigene Volk, gegen die Bürger, die diese Staatsmacht durchfüttern. Die Staatsmacht hat der Gesellschaft den Krieg erklärt, und das ist keine bloße Metapher.

In den vergangenen Tagen und Nächten wurden auf den Straßen Kiews Aktivisten entführt – wohlgemerkt nicht solche, die Molotow-Cocktails werfen, sondern ganz gewöhnliche Protestunterstützer. Es gab die ersten Toten, dutzende Demonstranten wurden festgenommen, dutzende wurden vor Gericht gezerrt oder landeten im Gefängnis.

Wir wollen gar nicht erst über den Einsatz von Schusswaffen in der Gruschewski-Straße, einem der Hauptschauplätze der Proteste, reden. Oder über die sadistischen Ausfälle der Spezialkräfte gegen die festgenommenen Aufständischen. Es geht längst nicht mehr um die Annäherung an die Europäische Union. Diese Frage, die der Staatsmacht gar nicht so wichtig erschien, hatte wegen der totalen politischen Abhängigkeit des ukrainischen Präsidenten eine Welle des Volkszorns ausgelöst. Heute kann diese Welle die schwache und träge Staatsmaschinerie hinwegspülen. Die ukrainische Staatsmacht hat sich als ein System der Selbstzerstörung entpuppt.


„Maidan“ ist der Schlüssel zum Verständnis der Veränderungen in Gesellschaft

Es ist wahr, der Kiewer Maidan begann diesmal mit Protesten gegen die Abkehr vom Annäherungskurs an die Europäische Union. Doch die Proteste durchliefen den komplizierten und tragischen Prozess, wie er mit der Entstehung einer neuen Zivilgesellschaft einhergeht. Ja, einer Zivilgesellschaft, denn der Maidan ist nicht nur ein Platz im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt mit einigen hunderttausend unzufriedenen Bürgern darauf. „Maidan“ ist der Schlüssel zum Verständnis der grundlegenden Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft.

„Maidane“ entstanden in den letzten zwei Monaten in hunderten von ukrainischen Städten. In großen und in kleinen, im Osten und im Westen des Landes. Ich habe zum Beispiel mit den Maidan-Aktivisten von Kramatorsk gesprochen. Kramatorsk ist eine Industriestadt im Donbass in der Ost-Ukraine, Stammland der regierenden Partei der Regionen – dort ist Janukowitsch eine stabile Unterstützung sicher. Auf dem Kramatorsker Maidan ist jeden Tag eine Gruppe von Menschen anzutreffen. Sie lösen bei den anderen Stadtbewohnern Unverständnis und Unmut aus, aber sie können nicht anders, sie müssen jeden Tag auf den Platz. So geht es hunderttausenden Aktivisten im ganzen Land.

Ukrainer, die sich von der aktuellen Konfrontation fernhalten oder die Staatsmacht unterstützen, können eine solche Beharrlichkeit bis zum siegreichen Ende nur schwer verstehen. Janukowitschs Wähler haben eine ganz andere soziale und staatsbürgerliche Mentalität. Entweder werden sie mit Zwang auf regierungstreue Demonstrationen getrieben – in meiner Heimatstadt Charkiw passiert das regelmäßig, unter Führung der lokalen Verwaltung. Oder aber sie werden für umgerechnet 15 bis 20 Euro angeheuert und nach Kiew gebracht, wo sie den Anschein einer massenhaften Unterstützung für Janukowitsch erwecken sollen.

Es ist für diese Menschen unvorstellbar, dass jemand freiwillig und unbezahlt protestieren könnte. Sie, die Wähler der Partei der Regionen, können sich nicht vorstellen, dass jemand bei Frost und Schnee vor die Tür geht für eine Idee. Daher kommen all die Mythen und Gerüchte über die Proteste in Kiew, die im Süden und Osten des Landes kursieren. Es wird behauptet, die Demonstranten auf dem Maidan seien allesamt Faschisten, und gleichzeitig wollten sie alle die gleichgeschlechtliche Ehe. Diese Beispiele entspringen nicht meiner Phantasie; solche Absurditäten kursierten in den vergangenen zwei Monaten tatsächlich in den ukrainischen Medien.

Die Informationsblockade der Regierung in ganzen Regionen des Landes erlaubte es bislang, die Situation mehr oder weniger unter Kontrolle zu halten. Doch die Radikalisierung der Proteste in Kiew zeigt, dass es für die Staatsmacht immer schwieriger wird, die Kontrolle zu behalten. Davon zeugte seit der vergangenen Woche auch die „Parade der Souveränität“, wie die Welle der Übernahme regionaler Verwaltungen durch die Protestierenden bereits in Anlehnung an die Loslösung der Sowjetrepubliken von Moskau Anfang der 1990er Jahre genannt wird.


Die Staatsmacht ist die größte Gefahr für Leben und Freiheit der Ukrainer

Schon jetzt ist klar, dass eine Lösung des Protestproblems mit Gewalt ein schlechtes Licht auf die Regierung wirft. Sie ist nicht bereit für einen offenen Dialog mit der Gesellschaft.

Es klingt paradox, doch die Staatsmacht ist im Moment die größte Gefahr für das Leben und die Freiheit der Ukrainer. Ich denke, dass die Ukrainer selbst das sehr gut verstehen. Und ich glaube, dass die Staatsmacht sich ihrer Situation ebenso bewusst ist wie die Normalbürger. Die Masken sind gefallen.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin


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