Ukraine

Nervenkrieg in der Ukraine

Um acht Uhr geht am Sonntagmorgen in Kiew die Sonne auf, es ist ein sonniger, strahlend blauer Tag. Einheiten der Selbstverteidigungseinheiten „Samooborona“ marschieren brüllend über den Platz, auf der Bühne wird der Tag mit dem Singen der ukrainischen Nationalhymne begonnen. Der Maidan lebt sein Leben weiter, und eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass dieser Zauber bald vorbei sein könnte. Aber in einer Kiewer Wohnung schläft Vitali Klitschko sich gerade für die nächste Runde der Verhandlungen mit dem Präsidenten aus. Und er muss aufpassen, nicht in eine Falle zu tappen.

Der Moment der Wahrheit nähert sich für Vitali Klitschko am späten Samstagabend, in eiskalter Nachtluft. Nervös steht der Boxweltmeister im Vorzelt hinter der Bühne des Maidan, auf dem seit über zwei Monaten die ukrainische Politik gemacht wird. Klitschko überragt sie alle: Arsenij Jazenjuk, den Vorsitzenden der Timoschenko-Partei „Vaterland“, Oleh Tjahnibok, den Nationalisten, Pjotr Poroschenko, den Oligarchen, der dem Protest mit seinem Fernsehsender mediale Rückendeckung gibt.

Nun aber soll Klitschko in die zweite Reihe rücken. Nach zähen, mehrtägigen Verhandlungen hat Präsident Wiktor Janukowitsch der Opposition am Samstag ein verlockendes Angebot gemacht: Jazenjuk soll Premierminister werden, Klitschko sein Stellvertreter. Klitschko weiß: Das überraschende Angebot ist eine Falle. Weist er es zurück, hat der Präsident alles Recht, die Opposition als kompromissunfähig zu bezeichnen. Nimmt er an, werden die Demonstranten ihn und Jazenjuk beschuldigen, für ein Stück vom Kuchen der Macht den Protest verraten zu haben.

„Seka het, Seka het“, schallen von draußen die Sprechchöre von tausenden Demonstranten herein, „zum Teufel mit dem Kriminellen“. Damit ist Janukowitsch gemeint. Sechs Demonstranten sind während der Straßenkämpfe der vergangenen Tage gestorben. Nach solchen Opfern ist ein baldiger Rücktritt Janukowitschs das Einzige, was die Menschen zufriedenstellen wird. Klitschko steigt die wenigen Stufen zur Bühne hinauf, hinter ihm nehmen Jazenjuk, Tjahnibok und Poroschenko Aufstellung. Klitschko greift das Mikrofon und ruft mit fester Stimme in die kalte Kiewer Nacht: „Ruhm der Ukraine.“

 „Aber hin und wieder werfe ich einen Molotowcocktail oder einen Stein auf die Polizei“

Ihor kann ihn nicht hören. Dabei steht der hochgewachsene junge Ukrainer nur einige hundert Meter von Klitschko entfernt. In der Luft liegt der beißende Geruch verbrannten Gummis. „Das ganze Gerede interessiert mich nicht“, schimpft er, ohne den Blick von jenen zu wenden, die ihm einen Steinwurf entfernt gegenüberstehen. Hunderte Polizisten des Innenministeriums und Mitglieder der Sondereinheit Berkut haben sich dort hinter ihren metallenen Schutzschilden verschanzt. Zwischen den Demonstranten und der Polizei liegen die Gerippe ausgebrannter Polizeibusse, tausende Pflastersteine, detonierte Feuerwerkskörper, Scherben von Molotowcocktails, Drahtknäuel, die übrig geblieben sind von den hunderten verbrannten Autoreifen. Das Kampffeld ist bedeckt von einer dicken Eisschicht, nachdem die Polizei über Tage versucht hat, die brennenden Reifenbarrikaden zu löschen.

Ihor gehört wie Tausende andere den „Samooborona“-Einheiten an. Er ist vorbereitet für den Fall, dass es wieder losgeht: Schienbeinschoner, Helm und Skibrille gehören zur Grundausstattung, mit seinem Gummiknüppel ist Ihor aber eher schwach bewaffnet. Andere tragen metallene Lanzen, Mistgabeln, Baseballschläger. Der harte Kern der gewalttätigen Aktivisten ist der „Rechte Sektor“, der sich aus Fußballhooligans und rechtsradikalen jungen Männern formiert. Es ist die Drohkulisse, die Janukowitsch endlich zum Einlenken bewegen soll.

Ihor stammt wie viele jener radikalen Demonstranten auf den Barrikaden aus einer Stadt im Westen des Landes. Er hat sich die Kiewer Dauerdemo zwei Monate im Fernsehen angeschaut, aber als er auf der Mattscheibe explodierende Tränengasgranaten sah, Polizisten, die wild auf Demonstranten einprügeln, als erste Berichte von Todesopfern folgten, da hielt ihn nichts mehr. Seitdem spielt sich sein Leben auf den Barrikaden ab: Wache halten, dann ein paar Stunden Schlaf im beheizten Armeezelt auf dem Maidan, wieder zurück auf die Barrikaden. Wie lange soll das gehen? „Bis Janyk zurücktritt“, sagt er. Darum gehe es jetzt. Die Europäische Union? „Es wäre nicht schlecht, wenn man die Visa abschaffen würde“, fällt ihm dazu ein.

Die wilden Straßenschlachten, als Polizei und Demonstranten sich gegenseitig die Gruschewski-Straße hoch- und runterjagten, hat er zwar verpasst. „Aber hin und wieder werfe ich einen Molotowcocktail oder einen Stein auf die Polizei“, sagt Ihor ruhig. Es sind diese kleinen Scharmützel, die die ukrainische Hauptstadt seit Mittwoch nicht zur Ruhe kommen lassen.

Wie fest sitzt Präsident Janukowitsch noch im Sattel? Darüber spekulieren seit zwei Monaten nicht nur die Ukrainer. 2010 hatte er sich knapp gegen Julia Timoschenko durchgesetzt und danach ein autoritäres System installiert: Er hat Timoschenko ins Gefängnis geworfen, in praktisch allen Landesteilen loyale Verwaltungschefs eingesetzt, er hat im Parlament eine Mehrheit formiert und die wichtigsten Medien unter seine Kontrolle gebracht. Und er hat sich persönlich bereichert: Sein Sohn Alexander hat praktisch aus dem Nichts ein Vermögen von einer halben Milliarde Dollar zusammengerafft.

Der Kragen platzte den Ukrainern aber erst, als Janukowitsch ihnen ins Gesicht spuckte: Über Monate hatte selbst seine „Partei der Regionen“ für ein Assoziationsabkommen mit der EU geworben, doch plötzlich verweigerte er die Unterschrift wegen angeblich negativer Folgen, die das Abkommen für die Bürger seines Landes haben werde. Seitdem stehen die Menschen auf dem Maidan.

In mehreren Regionen, vor allem im westlichen Teil des Landes, haben Demonstranten über die letzten Tage die Gebietsverwaltungen besetzt, um den Druck auf Janukowitsch zu erhöhen. Doch in den eher prorussischen Gebieten scheitern die Demonstranten dabei, etwa am Sonntagnachmittag im südöstlich von Kiew gelegenen Gebiet Saporoschje.

Es herrscht angespannte Ruhe

„Den Helden Ruhm“, schallt es Boxweltmeister Klitschko am späten Samstagabend aus zehntausend Kehlen entgegen. Es sind nicht mehr Hunderttausend wie noch vor einigen Wochen, nicht einmal mehr Zehntausende, die auf dem Maidan stehen. Übrig geblieben ist jetzt noch der harte Kern. Und der wartet auf eine klare Ansage: Wird Klitschko das Angebot des Präsidenten annehmen? Es herrscht angespannte Ruhe.

„Gerade kommen wir von schwierigen Verhandlungen zurück“, ruft Klitschko, „Verhandlungen, um den Menschen Gerechtigkeit und ein Leben in einem normalen Land zurückzubringen.“ Dann blickt er konzentriert auf den Tablet-PC in seiner Hand und liest ab. „Der Präsident ist bereit, alle Festgenommenen zu amnestieren, zur Verfassung von 2004 zurückzukehren, zum Rücktritt der Regierung“, ruft er. „Aber wir fordern eine Abschaffung der diktatorischen Gesetze und Präsidentschaftswahlen noch in diesem Jahr. Wir halten unsere Positionen auf dem Maidan und in den Regionen.“

Eine Antwort auf die wichtigste Frage bleibt Klitschko schuldig. Auch die drei anderen Redner nach ihm antworten nicht, tosenden Applaus bekommt nur der Chef der Nationalistenpartei Tjahnibok, als er eine Liste der Regionen im Land vorträgt, in denen die Opposition die Gebietsverwaltungen besetzt hat. Am Ende ruft der Moderator „Das ist ein Sieg!“ Die Menschen sind nicht einverstanden.

Auch vor den Fernsehkameras gibt es keine klare Antwort: Werden Klitschko und Jazenjuk in eine Regierung unter einem Präsidenten Janukowitsch eintreten? „Das ist ihr Vorschlag, wir verhandeln weiter“, entgegnet Klitschko. Mehr ist nicht zu erfahren, dann flieht Klitschko vor den Kameras und braust in einem schwarzen Jeep davon. Der Boxweltmeister macht einen sehr müden Eindruck.

Und doch wird es wieder eine lange Nacht für ihn: Im „Ukrainischen Haus“ nahe dem Maidan haben sich in der Nacht auf Sonntag an die 200 Polizisten verschanzt, hunderte Demonstranten attackieren sie mit Molotowcocktails und Steinen, in der Luft liegt Pogromstimmung. Um halb vier kommt Klitschko und handelt schließlich einen ungehinderten Abzug der Polizisten aus. Kämpfe dieser Art ist Klitschko gewöhnt. Einen Kampf, bei dem der Gegner ihm einen Platz an seiner Seite anbietet, ist absolutes Neuland für ihn.

Eine Lösung der politischen Krise in der Ukraine scheint nun sehr nah. Aber ob die Radikalen an der Gruschewski-Straße sich mit der Lösung zufrieden geben, ist eine andere Frage.


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