Rückfall in die Steinzeit
An eine Krücke geklammert steht Nadeschda Kucharenko am Straßenrand. Sie muss höllisch aufpassen, dass der heranbrausende Lkw sie nicht überfährt. Seitdem Tag und Nacht 250 Lkw durch die kleine Siedlung Achschtyr donnern, um Steine vom nahegelegenen Steinbruch aufzuladen und abzutransportieren, ist die 73-Jährige mit den Nerven am Ende. „Durch die Arbeit am Steinbruch und durch die Lkw fallen ständig Sachen vom Dach meines Hauses. Es ist furchtbar schäbig geworden“, schimpft sie vor sich hin, während gerade wieder zwei Lastwagen durch die Hauptstraße des Dorfes krachen.
Staub wird aufgewirbelt, das eigene Wort ist kaum zu verstehen. Auch der Asphalt ist schon brüchig geworden. Für solche Schwertransporter ist die Straße nicht ausgerichtet. Seit vier Jahren geht das schon so - und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Zeit wird knapp, denn auch wenige Wochen vor dem Beginn der Olympischen Spiele rattern die Lkw noch rund um die Uhr durch das Dorf.
200 Menschen leben in der kleinen Siedlung nur gut zehn Kilometer vom Olympia-Park von Sotschi entfernt, in dem im Februar die Athleten um Medaillen kämpfen werden. Schon von der Dorfstraße aus kann man den Steinbruch erkennen, der dem kleinen Ort zum Verhängnis geworden ist. Viele Bäume sind gerodet worden, um an die Steine heranzukommen. Denn die werden dringend für die Olympischen Sportanlagen benötigt. Dabei ist die Gegend eigentlich ein Naturschutzgebiet, aber vor Olympia interessiert das anscheinend keinen mehr.
Den Bewohnern geht es längst nicht mehr nur um Dreck, Verkehr und Lärmbelästigung. „Wir haben hier kein fließendes Wasser mehr. Einmal die Woche wird uns Wasser mit dem Lkw gebracht, aber wir wissen überhaupt nicht, wo es herkommt“, berichtet Alexander Koronow, der Vorsteher der Gemeinde. Doch da sie keine andere Wahl hätten, müssten sie das Wasser trinken, sagt der 52-Jährige verbittert.
Von der Außenwelt abgeschottet
Früher war die Wasserversorgung für das Dorf durch Brunnen gesichert, doch durch die Erschließung des Steinbruchs sank der Grundwasserpegel so sehr, dass vor zwei Jahren die Brunnen versiegten. Durch die zahlreichen Straßenbauarbeiten und Tunnelkonstruktionen rund um Sotschi ist das Dorf mittlerweile nicht mehr an das Verkehrsnetz angeschlossen. Der Schulweg der Kinder hat sich enorm verlängert und die nächste Haltestelle für den Bus in die Stadt ist sieben Kilometer entfernt.
Das Dorf ist in seiner Entwicklung um Jahre zurückgeworfen worden. Einige Bewohner sind durch den Steinbruch bereits krank geworden – der Staub setze sich in den Lungen fest, sagt Koronow. „Früher haben wir unser Gemüse und Obst auf dem Markt verkauft, aber das will schon längst keiner mehr haben, weil es voller Staub ist.“ Immer wieder muss der Ortsvorsteher seinen Satz unterbrechen, weil ein Lkw hinter seinem Rücken entlang donnert.
Nur 300 Meter vom Dorfzentrum entfernt thront der Steinbruch über der Siedlung. Der Lärm der Maschinen, die die Brocken aus den Felswänden hauen, ist kaum auszuhalten. Einige Häuser stehen unmittelbar daneben. An Schlaf und Ruhe ist hier nicht zu denken. Um Hilfe haben die Bewohner viele gebeten: den Bürgermeister von Sotschi, den Gouverneur der Region Krasnodar und das Organisationskomitee Sotschi 2014 – gebracht hat das alles nichts. Dabei hatte sich das Organisationskomitee das Thema Kompensation ganz groß auf die Fahnen geschrieben: Für jeden gefällten Baum sollte ein neuer gepflanzt werden.
„Olympische Winterspiele unter Palmen“
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. „Der Wald, der für diese Region typisch war, ist komplett zerstört worden. Es werden Kompensationspflanzungen gemacht, aber das sind für mich keine“, erläutert Wladimir Kimajew, Naturschützer bei der Umweltwache Nordkaukasus. Vielmehr würden Palmen aus Italien eingeflogen, die für diese Region nicht geeignet seien, sagt Kimajew spöttisch.
Das inoffizielle Motto der Spiele von Sotschi lautet „Olympische Winterspiele unter Palmen“. Es spielt auf das subtropische Klima der Schwarzmeerstadt Sotschi und das alpine Klima der nahegelegenen Berge an. Doch die frisch gepflanzten Palmen werden in den Bergen von Krasnaja Poljana wohl nur zur Dekoration am Wegesrand stehen, damit die Illusion für die Olympia-Besucher perfekt ist. Dort, wo die alpinen Skiwettbewerbe stattfinden werden, ist es einfach zu kalt für Palmen.
Auch am Steinbruch selbst wird vor allem auf den guten Eindruck geachtet, wie Sergej Tscheglewski schildert. Der 32-jährige Bewohner von Achschtyr blickt verbittert in das Loch hinab. Auch Müll sei dort abgeladen worden, sagt er. Die Verantwortlichen hätten schnell Erde darauf gekippt, damit es niemand mehr sehen könne. „Wir haben weder Wasser, noch eine Verkehrsanbindung, noch Gas. Wir heizen mit Feuerholz, aber das hat man uns verboten, damit keiner der Olympia-Gäste Rauch aus unseren Schornsteinen kommen sieht“, sagt er erbost und schüttelt den Kopf. „Alle sollen denken, dass überall alles schön ist und wir eigene Gasleitungen haben.“
Bis Olympia sollen die Bewohner sich noch gedulden, dann sei ja alles vorbei, heißt es. Doch darauf will keiner mehr vertrauen. Eigentlich hatten sich die Bewohner von Achschtyr gefreut, als die Wahl des Olympia-Austragungsortes auf Sotschi fiel. Sie hofften auf den Sprung in die Neuzeit mit neuen Verkehrsanbindungen und umfassenden Modernisierungen. Stattdessen fühlen sie sich nun in die Steinzeit zurückversetzt.