Russland

Vom Kurort zum Skigebiet

Sotschi, ein von Palmen gesäumter subtropischer Badeort und Gastgeber der Olympischen Winterspiele, ist jetzt eine Festung. 30.000 russische Sicherheitskräfte haben die Stadt abgeriegelt. Kein Fahrzeug darf mehr hinein, das nicht in Sotschi gemeldet oder eigens für die Spiele registriert ist. Drohnen schweben in der Luft, die Schwarzmeerküste wird vom Meer aus schwer bewacht, Sotschi mit Boden-Luft-Raketen gesichert, und auch der Verkehr von E-Mails und Handy-Telefonaten wird überwacht. Seit 7. Januar – genau einen Monat vor den Olympischen Winterspielen – gilt die Hochsicherheitszone in der Stadt.


Sehnsuchtsort am Schwarzen Meer

Tatjana und ihre Schwiegertochter Liliana haben von dem ganzen Rummel noch nicht viel mitbekommen. Die machen es sich auf der Terrasse der „Goldenen Ähre“ bequem. Die Temperaturen sind noch angenehm mild für diese Jahreszeit. Ihr Abendessen im bekannten Sanatorium von Sotschi nehmen sie draußen ein. Die beiden sind im Urlaub. „Als ich ein kleines Kind war, habe ich immer den Satz gehört: Wenn du in deinem ganzen Leben nie in Sotschi gewesen bist, dann war dein Leben umsonst“, sagt die 54-jährige Tatjana. Sie wohnt in Moskau und ist von ihrem ersten Aufenthalt in der Olympiastadt sehr angetan.

Sotschi ist für viele Russen noch immer ein Sehnsuchtsort. Auf einem Breitengrad mit der Côte d’Azur gelegen, ist die Stadt auch als „russische Riviera“ bekannt. Für viele Einwohner aus Moskau oder St. Petersburg bietet Sotschi das, was sie sonst nicht kennen: Strand, Meer, angenehmes Klima, Berge, und das alles an einem Ort vereint.

Auch die Sanatorien, in denen Tatjana und Liliana ihren Urlaub verbringen, sind typisch für die Schwarzmeerstadt. Zu Sowjetzeiten gehörten die Sanatorien Betrieben, die ihre Arbeiter zur Erholung nach Sotschi schickten. Daran kann sich Hamlet Watjan noch gut erinnern. Schon als zwölfjähriges Kind weilte er mit seinen Eltern auf Kur am Schwarzen Meer. Heute ist er 65 Jahre alt, sein Haar schlohweiß.

In seinem Büro in der „Goldenen Ähre“, das an der Hauptstraße Kurortny Prospekt unmittelbar am Meer liegt, erzählt er mit leuchtenden Augen von der Vergangenheit. Aber wenn er auf die jüngere Entwicklung von Sotschi blickt, wird er ernst: „Sotschi hat den Charakter einer Kurstadt verloren. Früher haben hier 350.000 Menschen gelebt. Das war die optimale Bevölkerungszahl für eine ruhige Kurstadt“, sagt der Direktor der „Goldenen Ähre“. Mittlerweile habe sich die Stadt zu einer Metropole entwickelt. Es sei unheimlich viel gebaut worden. Früher habe jeder Einwohner 150 Quadratmeter Grünfläche gehabt, heute seien es nur noch 30.


Olympia - und dann?

„Unsere größte Sorge ist, ob Sotschi auch in Zukunft noch als Kurort funktioniert“, sagt der Direktor. Es sei üblich gewesen, dass die Kurgäste für 20 bis 24 Tage kamen und sich erholten. „Jetzt kommen die Besucher nach Sotschi wie zu einem normalen Urlaubsort in Spanien oder der Türkei und bleiben für fünf bis sieben Tage, um Spaß zu haben.“ Die großflächigen Bauarbeiten haben auch Spuren in der „Goldenen Ähre“ hinterlassen. Die Besucherzahlen in den vergangenen Jahren waren rückläufig. Man hofft, dass sich nach den Spielen – wenn die Bauarbeiten abgeschlossen und alle Straßen fertig sind – alles zum Guten wendet.

In Zukunft soll die Region für mehr als nur Badeurlaub und angenehme Temperaturen stehen: für Skifahren und Wintersport. Denn während es in Sotschi selbst im Winter nicht richtig kalt wird, liegen Krasnaja Poljana und die Berge nur 70 Kilometer entfernt. Hier ist binnen kürzester Zeit ein ganzes Bergdorf aus dem Boden gestampft worden. Während der Winterspiele finden hier die alpinen Skiwettbewerbe statt.

Und außerdem soll hier Russlands erstes Skiresort entstehen, das internationalen Ansprüchen genügt. Denn in Zukunft sollen die Russen nicht mehr ins Ausland in den Skiurlaub reisen müssen. Schon nach zwei Stunden im Flugzeug erreicht man aus Moskau kommend Sotschi und ist nach nur weiteren 30 Minuten Zugfahrt in den Bergen des Kaukasus auf 3.000 Metern Höhe.

Im nagelneuen Skiort Rosa Khutor unweit von Krasnaja Poljana hallt aktuelle Chartmusik aus den Lautsprechern und beschallt den öffentlichen Platz. Bald wird hier ein McDonald’s eröffnet, eine Pizzeria gibt es schon, einen Supermarkt und jede Menge Hotels. Die Skitouristen können kommen. Für westeuropäische Betrachter ist der Ort allerdings gewöhnungsbedürftig. Vieles wirkt noch steril und nüchtern. „Das sieht doch aus wie Disneyland“, spottet ein englischer Besucher.

Jean-Marc Farini bringen solche kritischen Stimmen nicht aus der Ruhe. Der Franzose verantwortet das Skigebiet. Vom Fenster seines Büros im Rathaus von Rosa Khutor überblickt er den zentralen Platz. Energisch schüttelt er den Kopf. „Nein, verrückte Sachen nur für 15 Tage Olympia machen wir hier nicht“, sagt der 39-Jährige. Alles, was sie in Rosa Khutor planen, sei langfristig sinnvoll. Insgesamt seien 1,7 Milliarden Euro in das Resort investiert worden, sagt er. Es soll sich gelohnt haben: „Aktuell fahren in Russland doch nur zwei bis drei Prozent Ski. In Europa sind es 15 bis 20 Prozent.“ Das Potenzial sei enorm.

140 Millionen Menschen leben in Russland. Jeder Zehnte soll in Zukunft Sotschi als Tourist besuchen. Dafür wird einiges geboten. Die Formel 1 kommt im Oktober 2014, der G8-Gipfel steigt schon im Juni, der erste Vergnügungspark Russlands soll Besucher anlocken, dazu Spiele des Confederations Cup 2017 und als Krönung die Fußball-WM 2018. Mit der Ruhe wird es also definitiv vorbei sein in Sotschi. Die Frage ist nur, ob das allen so recht ist.


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