Russland

Kolyma-Tagebuch

Mit einem endlos langen Grunzen zieht sie die Rotze in den Rachen. Was wird sie jetzt tun, frage ich mich. Spuckt sie in den Aschenbecher, in den Blumentopf vom Gummibaum, in den Mülleimer? Oder schluckt sie alles runter? Ediij Dora steht auf und sieht sich um. Sie gibt uns Zeichen (die Geister erlauben Dora nur Jakutisch zu sprechen), also reicht ihr unsere Übersetzerin hilfsbereit ein Blatt Papier. Die Lehrerin rollt ein Tütchen und spuckt einen großen, grünen Schleimklumpen hinein, der lange wie ein heißer Zapfen an ihren Lippen hängt.


Am 13. Dezember um 19 Uhr stellt Jacek Hugo-Bader in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin seinen Reportageband vor. 

ostpol ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe „Reportagen ohne Grenzen“.



Schamanin Ediij Dora

Das ist eine gute Gelegenheit, um mich zu erklären. Was die Struktur und den Umschlag dieses Buches betrifft. Drei Teile, dunkelgrüne Farbe, goldene Buchstaben ... All das hat Ediij Dora schon vor einem Jahr im Geiste gesehen. Ihrem Personalausweis zufolge heißt sie Fedora Innokentewna Kabjakowa. Ediij bedeutet Schamanin, Lehrerin, Heilerin – und wörtlich „Ältere Schwester“. Schon mit 20 Jahren wurde sie in Jakutien so genannt. Es ist ein sehr ehrenvoller, fast religiöser Titel, der einem Menschen vom Volk verliehen wird. 

Ich schreibe erst das fünfte Kapitel dieses Buches, aber die Sache mit dem Grün und Gold habe ich schon mit dem Verlag abgesprochen. Sie rümpften ein wenig die Nase, weil es wie der Koran aussehe, aber sie ließen sich überzeugen. Davon, dass Ediij Dora es besser weiß. Sie weiß alles. Selbst wie und wann ich sterbe, was für ein Baum vor meinem Haus wächst, was ich denke und wann das Buch fertig sein soll. Genau zwölf Monate nach unserem Treffen, also im Dezember 2011. Und wenn ich beim Schreiben nicht vorankomme, soll ich aus dem Haus gehen und meinen Baum füttern. Ihr Geist werde in ihm sein. Oder noch besser zu Mütterchen Fluss fahren, das durch meine Stadt fließt, und es auch füttern. Ein Stückchen Brot, Fleisch, ein wenig Butter und Milch als Opfergabe am Ufer zurückgelassen, und die Arbeit wird mir leicht von der Hand gehen. 

„Aber ich rate Euch, so einfach wie möglich zu schreiben“, sagt Dora. „Über mich auch. Und nicht viel. Weil Ihr nicht viel versteht.“ Nach einer Stunde ist das Tütchen der Lehrerin gefüllt mit Grün. „Ich weiß, dass Ihr Euch die ganze Zeit fragt, ob ich krank bin“, liest Dora meine Gedanken. „Das, was ich in der Hand halte, habe ich aus dir herausgeholt. Das sind die schlimmen Erlebnisse auf deiner Reise, von der du gerade zurückkehrst, die schlechten Erinnerungen, die bösen Menschen, die Erschöpfung, die Krankheiten, der Wodka, die Angst, die Müdigkeit ... Ich habe dich gereinigt. Und alle Menschen, die dein Buch lesen und denen es kein Vergnügen bereitet. Sieh nur, wie viel davon zusammengekommen ist.“


Am Pol der Grausamkeit

Iwan Iwanowitsch ist schwer herzkrank und hat eine Frist, das heißt nur noch ein paar Wochen, vielleicht auch Monate zu leben. Das sagen die Ärzte. Er stirbt, also hatte er als Einziger keine Angst und hat sich – genau wie ich – nicht volllaufen lassen wie alle anderen Mitreisenden. Ich wusste nicht, dass ich es hätte tun sollen, dass die sieben schrecklichsten Minuten meines Lebens vor mir lagen, dass ich größere Angst haben würde als an jenem Tag, als die Russen während des ersten Tschetschenienkrieges die Stadt Schali eroberten und es mir nicht gelungen war, mit den Zivilisten abzuhauen. 

Woher ich weiß, dass es nur sieben Minuten waren? Weil ich das Diktiergerät einschaltete, als ich auf unser winziges Bötchen stieg. Es misst die Länge der Aufnahme. Ich habe es am anderen Ufer ausgeschaltet. Jetzt höre ich, dass alle wie gebannt schwiegen, als die in der Strömung treibenden Eisbrocken mit durchdringendem Knirschen gegen die metallene Bordwand stießen, der Motor wie verrückt auf Hochtouren heulte, und ich wie irre lachte. Das war unsere Überfahrt über den gewaltigen sibirischen Fluss Aldan in den letzten Oktobertagen des Jahres 2010. 

Aber warum erzähle ich davon? Nun ja, deshalb, weil es mir scheint, dass man Krebs haben, schwer herzkrank oder krank im Kopf sein muss, um hier zu leben. Man muss wirklich nichts zu verlieren oder keinen anderen Ausweg haben, wenn man sich am Pol der Grausamkeit niederlässt. So reden und schreiben die Menschen über die Kolyma. Ein andermal sprechen sie vom größten Albtraum des 20. Jahrhunderts, der verfluchten, schrecklichsten oder fernsten Insel des Archipel Gulag, seinem harschen Pol, dem russischen Golgota, einem weißen Krematorium, der arktischen Hölle, einem eisigen Konzentrationslager ohne Öfen oder auch, mit Verlaub, einer riesigen Fleisch und Knochen zermalmenden Maschine. 


Eine „Flucht mit Butterbrot“

Wisst ihr, dass Menschenfleisch genauso schmecken soll wie das von Rentieren – sehr zart, mager und leicht süßlich? Keine Ahnung, woher die Einheimischen das wissen. Ich vermute, dass diese Meinung von Generation zu Generation überliefert wird. Es heißt, die Hälfte der derzeitigen Einwohner an der Kolyma seien Nachfahren der seki, ehemaliger Lagerinsassen. Die zweite oder dritte Generation. Sek (in sowjetischen Dokumenten s/k geschrieben) ist eine Kurzform von sakljutschjonnyj und bedeutet ganz einfach Häftling. Wenn jemand aus dem Lager floh, nahm er manchmal einen Schwächeren in die Taiga mit. Das war eine „Flucht mit Butterbrot“ oder „mit Kuh“, die ganz von selbst demjenigen folgte, der sie schließlich aß. 

Aber um auf das Fleisch zurückzukommen: Bestimmt sind die hiesigen Bären wegen dieser Geschmacksähnlichkeit so höllisch gefährlich. Rentiere sind Leckerbissen für sie, und ein Mensch ist in ihren Augen ein Rentier, das nicht schnell laufen kann, ein Opfer ohne Geweih, ein gewöhnlicher Tölpel und eine leichte Beute. So ein Mischka kostet nur einmal einen Menschen und kommt auf den Geschmack. Danach wird er nicht mehr in den Bergen Rentiere und Elche jagen, Heidelbeeren, Preiselbeeren und Vogelbeeren sammeln, nach Pilzen suchen und auf Müllhaufen stöbern. Er wird sich an die Kolyma-Trasse, die menschlichen Siedlungen, die Lagerplätze der Goldsucher halten.

Wie viele Geschichten ich darüber schon gehört habe! Beispielsweise die von dem Bergmann aus Susuman, der auf der Straße stand, weil er einen Platten hatte, und sich im Auto einschloss, als er den Bären sah. Wie von Sinnen riss das Tier das Blechdach auf und zog sein Opfer heraus wie Schweinefleisch aus der Dose. Solche Bären nennen sie hier schatun. Auf Russisch bedeutet das „Herumtreiber“, aber an der Kolyma ist das Wort durchgedrehten, menschenfressenden Bären vorbehalten. (...)


Der schatun von Werchojansk

Viele Jahre jagte der schatun von Werchojansk Menschen, und die Menschen jagten ihn. Sogar mit Hilfe von Hubschraubern. „Ich habe ihn bei Rutschaj Schamana getroffen“, berichtet Jura. „Ich steige aus dem Führerhaus, um an einer Quelle Wasser für Tee zu holen, aber vorher klettere ich noch kurz auf den Tank, um vor der Nacht zu überprüfen, ob die Abdeckungen gut verschlossen sind. Ich will schon runterspringen, als ich im letzten Moment sehe, dass er dort unten auf mich wartet. Er war plötzlich und lautlos wie ein Geist aufgetaucht. Ich habe ihn sofort erkannt.“ 

Ich fahre in Juras Kamaz-Tankwagen von Ust-Nera nach Chandyga. Das ist der schwierigste, abgeschiedenste, am wenigsten befahrene Abschnitt der Kolyma-Trasse. Mein Fahrer hält wie immer über Nacht bei Rutschaj Schamana bei Kilometer 1459 der Trasse im Werchojansker Gebirge. „Es war Ende April“, erzählt Jura weiter und gießt Wodka in die Becher, „nachts sinkt die Temperatur bis zu minus fünfzehn Grad, und ich hatte nichts als einen leichten Pullover an, ohne Handschuhe und Mütze, ich bin ja nur kurz rausgesprungen, um Wasser zu holen. Ich gehe auf das Führerhaus hinüber und versuche, vom Dach aus an den Türgriff zu kommen, um von oben hineinzuschlüpfen, aber er wartet bloß darauf, stellt sich auf die Hinterpfoten und versucht, mich zu erwischen. Er ist riesengroß, ohne Mühe reicht er an den Rand des Daches. Er weiß genau, dass ich früher oder später herunterkommen muss.“ 

Jura findet in der Hosentasche ein Feuerzeug, er zündet die Plastikflasche für das Wasser an, aber der Bär fürchtet sich nicht einmal vor Feuer. Ein wahrer Teufel, kein Tier! Er ist gerade erst aus dem Winterschlaf erwacht, ist also verdammt hungrig. Die ganze Nacht kreist er um den Lkw und wartet darauf, dass der Mensch erfriert und ihm in die Tatzen fällt. Er hat Zeit, denn auf diesem Straßenabschnitt kommen täglich höchstens ein paar Autos vorbei, und ganz sicher nicht in der Nacht. 

Zehn Stunden lang springt Jura auf dem Dach seines Kamaz herum, macht Kniebeugen, Liegestütze, Schattenboxen, doch schließlich hat er keine Kraft mehr und schläft in der Kälte ein. Vor dem Tod rettet ihn das durchdringende Dröhnen einer Hupe. Er sieht einen mächtigen KrAZ-Lastwagen, dessen Fahrer versucht, den Bären zu überfahren, aber das Raubtier ist gewandter. Es weicht geschickt der Stoßstange aus, also stellt der Retter die Autos längs nebeneinander und Jura schlüpft über das andere Dach in sein warmes Führerhaus. Das Auto stand die ganze Nacht mit laufendem Motor. 

„Aber die Hände sind mir erfroren“, sagt er und gibt mir die leere Flasche. „Bei Frost tun sie mir immer weh.“ „Wenn du denkst, dass ich Wasser holen gehe, dann irrst du dich.“ 
„Ach komm! Vor zwei Jahren haben sie ihn angeblich abgeschossen. Er soll dreizehn Menschen auf dem Gewissen gehabt haben.“

Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel

Jacek Hugo-Bader
Dziennik kolymskie
Wydawnictwo Czarne
ISBN: 978-83-7536-292-3


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