Moldau hofft auf Europa
Das Land, in dem Natalia Jurminschi geboren wurde, gibt es nicht mehr. In ihrer Geburtsurkunde stand noch in kyrillischer Schrift der Name Schurminskaja. Doch 1991, als sie sechs Jahre alt war, erklärte die Republik Moldau ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Das lateinische Alphabet wurde eingeführt, die Namen transkribiert, Straßen und Plätze umbenannt.
Viele strebten eine Vereinigung mit dem benachbarten, historisch eng verbundenen Rumänien an und wollten sich dem russischen Einfluss entziehen. Der Versuch scheiterte, vor allem am fehlenden Konsens in der moldauischen Gesellschaft. Denn viele andere fühlten sich nicht Rumänien, sondern Russland näher.
Eine Zukunft nur in der EU
Auch bei Natalia Jurminschi wurde zu Hause Russisch gesprochen. Trotzdem hofft die 28-jährige Journalistin, dass ihr Land am Donnerstag einen wichtigen Schritt in Richtung Europa macht und den Assoziierungsvertrag mit der EU paraphiert. Sie will nicht, dass der Druck aus Moskau die Regierung dazu bewegt, wie die Ukraine einen Rückzieher zu machen. Die Zollunion mit Russland, die der Kreml als Alternative bietet, lehnt sie strikt ab. „Beide Partnerschaften bedeuten für uns eine Abhängigkeitssituation“, erklärt sie. „Doch die Frage ist, von wem wir abhängig sein wollen. Und ich denke, es wäre besser, wenn wir das pseudodemokratische, autoritäre Regime von Wladimir Putin meiden könnten.“
Die junge Frau, die für proeuropäische Fernsehsender und Nachrichten-Portale arbeitet, macht dies auf Russisch, und schon das gilt als paradox. Mittlerweile hat sie aber auch die neue Landessprache gelernt: den rumänischen Dialekt, den die Rumänen „Rumänisch“ nennen, die Russischsprachigen „Moldauisch“ und die Verfassung schlicht „Amtssprache“. „Ich habe nach wie vor Hoffnungen für mein Land, auch wenn dies vielleicht naiv scheint“, erklärt die Journalistin. „Ich möchte hier in der Moldau mehr Demokratie und mehr Chancen für die Zukunft.“
Anders als Natalia Jurminschi lebt beinahe ein Drittel aller Moldauer im Ausland. Die wenigsten denken über eine Rückkehr nach. Denn die Hoffnungen, die sich viele Anfang der neunziger Jahre gemacht haben, wurden bitter enttäuscht. Der kleine Binnenstaat bleibt isoliert in einer Grauzone zwischen Europäischer Union und Russland, ohne die strategische Bedeutung, die Ressourcen und die Industrie der Ukraine. Abhängig von russischer Energie und angewiesen auf Subsistenzlandwirtschaft, ist Moldau nach wie vor das ärmste Land Europas: Die Überweisungen der Ausgewanderten an die Daheimgebliebenen machen rund die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus; der Durchschnittslohn moldauischer Arbeitnehmer liegt bei 150 Euro im Monat, etwa so viel wie die Heizungsrechnung im Winter.
Auch hier gibt es zwei verfeindete Lager
Auch die politische Lage macht wenig Hoffnung: Fast drei Jahre lang, von 2009 bis 2012, war das moldauische Parlament nicht in der Lage, einen neuen Präsidenten zu wählen. Etliche Versuche, durch vorgezogene Wahlen und Volksabstimmungen die Dauerkrise zu lösen, scheiterten an der Sturheit der beiden politischen Lager – aber auch am fehlenden Interesse der Bürger, die der Auseinandersetzung mit der heimischen Politik die Arbeit im Ausland vorziehen.
Doch das größte Hindernis auf dem Weg des Landes zum EU-Beitritt ist weder die katastrophale Wirtschaftslage noch der politische Dauerstreit, sondern Transnistrien: jener schmale Landstreifen jenseits des Flusses Dnjestr, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg an die neue moldauische Sowjetrepublik angegliedert wurde. Als die Politiker in Chisinau mehr Autonomie gegenüber Moskau und eine Annäherung an Bukarest suchten, erklärte Transnistrien 1990 seine Unabhängigkeit – noch bevor die Republik Moldau ein Jahr später selbst soweit war. Es folgte ein politischer Konflikt, der 1992 zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Hunderten von Toten auf beiden Seiten führte.
Transnistrien ist das Damoklesschwert
Bis heute bleibt die abtrünnige Republik, die kein Land der Welt anerkennt, eine Art Damoklesschwert über den Köpfen der proeuropäischen Moldauer. Obwohl zwischen Chisinau und der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol seit 20 Jahren kalter Frieden herrscht, gab es in der jüngsten Zeit erneut Vorfälle an der Grenze. Truppen der russischen Armee sind seit dem Krieg dort stationiert, offiziell um die russischsprachige Minderheit zu schützen. „Wir denken dabei sofort an Georgien, das macht uns ein bisschen Angst“, sagt Natalia Jurminschi. In Georgien intervenierte Russland 2008 militärisch, nachdem der Konflikt zwischen Tiflis und der abtrünnigen, prorussischen Republik Südossetien eskalierte.
Der EU-Assoziierungsvertrag muss nach seiner Paraphierung in Vilnius noch unterzeichnet und ratifiziert werden. „Deshalb baut Russland jetzt noch nicht so viel Druck auf wie im Fall der Ukraine, aber sie werden bald anfangen“, glaubt Natalia Jurminschi. Der moldauische Wein, eines der wichtigsten Exportprodukte des Landes, ist bereits vom russischen Markt verbannt. Auch könnte Russland versuchen, die Republik Moldau weiter in Handels- und vor allem in Energiefragen direkt zu erpressen. Vor einigen Monaten machte es der russische Vizepremier Dmitrij Rogosin ganz explizit: „Der Winter kommt und mit ihm die Kälte – ich hoffe, Sie werden nicht frieren“, sagte er den Moldauern bei einem Besuch in Chisinau.