Türkei

Syrische Flüchtlinge zwischen den Fronten

Der vierjährige Ali wippt mit seinem Plastikstuhl vor und zurück, zerknüllt ein Papier in seiner Hand und starrt auf seine Füße. Um ihn herum toben Kinder auf dem asphaltierten Hof. Nur ein Eisenzaun trennt sie von der wenige Meter entfernten Kreuzung. Seit drei Wochen zeltet Ali mit seiner Mutter Naime, seinem kleinen Bruder und sechzig weiteren syrischen Flüchtlingen im Hof eines alevitischen Kulturvereins im Istanbuler Viertel Gazi.

Die Familien sind wie Tausende andere aus dem umkämpften Aleppo geflohen – eine Stadt geteilt zwischen Assad-Anhängern und -Gegnern. Eines unterscheidet sie jedoch von den meisten anderen, die an der Grenze zu Syrien in Flüchtlingslagern leben: Sie sind Alawiten, jene Minderheit, der auch Baschar al-Assad angehört.


Angst vor der Rache der Sunniten

Alis Mutter, die 19-jährige Naime, fürchtet sich vor der Rache der Sunniten im Lager, von denen viele die Rebellen unterstützen. Ins Flüchtlingslager nach Kilis, nahe der syrischen Grenze, wollte sie deshalb nicht. Von Beschimpfungen und Misshandlungen gegen Assad-Anhänger habe sie gehört. Das alles lässt sich nicht prüfen, doch allein wegen der Gerüchte hat sie sich mit Verwandten bis nach Istanbul durchgeschlagen. Die Flüchtlinge können sich in der Türkei frei bewegen, doch wer in die Städte weiterreist, ist meist auf sich allein gestellt.

Geld für Essen, Wasser, Strom oder gar Miete hat Naime nicht. Deshalb schlief sie zunächst mit ihren Kindern und Hunderten anderen in einem Park in Istanbul. Ihr Mann ist noch in Syrien und Naime weiß, sollte Assad stürzen, wird sie ihn nie wiedersehen. „Er kämpft für Assad in der Armee“, sagt sie. Der Krieg? „Der ist, so Gott will, bald zu Ende.“ Seit drei Jahren hat Naime ihren Mann nicht mehr gesehen. Ihr jüngster Sohn, Alis Bruder, war gerade auf die Welt gekommen, als er sich der Armee anschloss.


Keine andere Wahl

Insgesamt sind nach Angaben der AfAD, dem türkischen Direktorat für Katastrophen und Notfälle, rund 500.000 Syrer in der Türkei registriert, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind. Etwa 200.000 werden von der türkischen Regierung in 21 Camps versorgt. 300.000 Flüchtlinge im Grenzgebiet erhalten außerhalb der Camps Essen, medizinische Versorgung und Unterricht. Türkische Medien berichten von allein 3.000 Alawiten in Istanbul, die aus Aleppo geflohen sind. Eine offizielle Zahl der Flüchtlinge in Städten gibt es nicht. Der türkische Menschenrechtsverein (IHD) hat eine Studie angekündigt, in der ihre Zahl erfasst und ihre Lebensbedingungen untersucht werden sollen.

Alis Familie kam nach Istanbul, weil sie keine andere Wahl hatte. Von den Flüchtlingen in den Parks erfuhr Zeynal Odabaş, Vorsitzender des alevitischen Kulturvereins in Gazi, aus der Zeitung. Gemeinsam mit anderen alevitischen Vereinen beschlossen sie, etwas zu unternehmen. Die Aleviten, nicht zu verwechseln mit den syrischen Alawiten, gehören einer islamischen Glaubensrichtung an, die sich dem schiitischen Islam zurechnen lässt. In der Türkei sind die Aleviten in Kulturvereinen organisiert, ihre Gebetshäuser (Cemevi) sind nicht als solche anerkannt.


Hoffnung auf Rückkehr

Zunächst hätten sie sich an die Verwaltung vom Bezirk Fatih gewandt, erzählt Odabaş – doch die wollte nicht helfen. Schließlich hätten sie die Flüchtlinge auf alevitische Vereine in der Stadt verteilt. Im Bezirk Gazi haben sie Zelte im Hof errichtet, die Verpflegung finanzieren sie über Spenden. Wie es im Winter weitergehen soll, weiß auch Odabaş nicht. Die Regierung müsste allen Flüchtlingen Hilfe zur Verfügung stellen und zur Not getrennte Camps errichten, fordert er.

Naime würde am liebsten nach Hause zurück. Sie streicht ihrem Sohn über die dunklen Locken. „So Gott will ist der Krieg bald vorbei und dann können wir zurück nach Aleppo“, sagt sie leise. Ali starrt noch immer auf seine Füße, die in Socken und Sandalen stecken. Seit er in Istanbul ist, hat er kaum gesprochen. Vielleicht denkt er an das, was er in Aleppo und auf seiner über 1.000 Kilometer langen Flucht erlebt hat.


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