Deutschland

„Mit dem Begriff Zigeuner bin ich aufgewachsen“

ostpol: Frau Mirkovic, das Cottbuser Filmfestival widmet die Sektion „Fokus” der Geschichte und dem Alltag von Sinti und Roma in Osteuropa. Auch auf der Berlinale waren „Aus dem Leben eines Schrottsammlers” aus Bosnien-Herzegowina und „Nur der Wind” aus Ungarn sehr erfolgreich. Ist die Roma-Thematik gerade angesagt?

Lidija Mirkovic: Beide Filme gehen die Zigeuner-Thematik sensibel und kenntnisreich an und haben zu Recht Preise auf der Berlinale gewonnen. Ich glaube, dass etablierte Filmemacher sich dieses Themas vermehrt annehmen, weil es seit dem Mauerfall europaweit in den Medien sehr präsent ist und es nahe liegt, darüber einen Film zu machen.

Sie sprechen von sich stets selbstbewusst als „Zigeunerin“.

Mirkovic: Ich entstamme der Gruppe der Vlach-Zigeuner, die bis 1865 in Rumänien als Sklaven gehalten worden sind. Also bin ich eine Vlach. Mit dem Begriff Zigeuner bin ich aufgewachsen und habe ein tiefe und positive Bindung zu diesem Wort. Ich identifiziere mich mit dieser Bezeichnung, auch weil sie mich mit anderen Zigeuner-Gruppen auf anderen Kontinenten und in Europa verbindet.

Sie gehören zu den wenigen Sinti und Roma, die den Alltag anderer Sinti und Roma dokumentieren. Arbeiten Sie damit gegen bestehende Klischees an?

Mirkovic: Nein, ich drehe keine gut gemeinten Filme. Ich will Zigeuner nicht als die edlen Wilden oder als die guten, aber unverstandenen Menschen darstellen. Ich versuche, in meinen Filmen universelle Themen zu behandeln, die allen Menschen gemein sind. Meine Geschichten erzählen von Leuten, die sich in ihren Wünschen, Hoffnungen oder in ihrer Trauer nicht so großartig von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden.

So wie die Slumbewohner aus Ihrem Kurzfilm „Angry men“ („Wütende Männer”), den Sie auch in Cottbus vorstellen. Der Slum unter einer Brücke soll aufgelöst werden, die Menschen sollen in die nahe gelegenen Wälder ziehen.

Mirkovic: Bei „Angry men“ sieht man, dass die Menschen, die dort zu Wort kommen, Menschen wie alle andere sind. Sie sind empört und machtlos, aber auch ungeschickt. Niemand ist nur gut oder schlecht, niemand ist nur Opfer. Niemand kann 1.000 Jahre Verfolgungsgeschichte überstehen, wenn er nur Opfer ist. Das geht nicht.


Zur Person: Lidija Mirkovic

In der Nähe von Belgrad im ehemaligen Jugoslawien geboren, zieht Lidija Mirkovic als Neunjährige mit ihren Eltern ins Rheinland. Sie studiert in Duisburg Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Politikwissenschaft und wird Mitglied der Filmwerkstatt Düsseldorf. Als Künstlerin mit Roma-Wurzeln setzt sich Lidija Mirkovic fotografisch und in Dokumentarfilmen mit dem Alltag von Sinti und Roma auseinander. Die 50-Jährige lebt mit Mann und Kind im Rheinland und arbeitet vor allem in Berlin und Belgrad. Jüngst hat sie die „International Romani Film Commission (IRFC)“ mitgegründet, die in Cottbus einen ersten gemeinsamen Omnibusfilm – eine Serie von kurzen Clips – präsentieren wird. Diese Vereinigung internationaler Filmschaffender hat es sich zur Aufgabe gemacht, Roma-Filmemacher bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Mirkovics großer Traum ist es, „Carmen” neu zu verfilmen – aus Carmens Perspektive.


Für ihren Film „Slumdogs” haben Sie ein Jahr lang mit Belgrader Roma unter einer Brücke im so genannten „Bellville“ gewohnt.

Mirkovic: Ja, ich bin im Juni 2011 hingezogen und habe versucht, alleine zu filmen. Aber das Geschlechterverhältnis ist sehr klar geregelt: Als Frau im sexuell aktiven Alter durfte ich nicht einfach dort herumspazieren und Männer in ihren Baracken besuchen, wenn die Frauen nicht da waren. Ich konnte mich erst freier bewegen, als mein Kameramann als männlicher Begleiter dazu kam. Dann reiste noch mein Mann an, um zu signalisieren, dass er mit meiner Arbeit einverstanden ist. Das Misstrauen den Medien gegenüber ist zudem sehr groß. Ich habe erreicht, dass wir drehen konnten. Aber ob ich das Vertrauen der Leute wirklich gewonnen habe, weiß ich nicht.

Was hat Sie im Slum am meisten schockiert?

Mirkovic: Gerade im Hinblick auf die medizinische Versorgung habe ich unglaubliche Sachen erlebt. Viele der Slumbewohner sind nicht gemeldet und haben auch keine Krankenversicherung. Einmal hatte eine ältere Dame im Slum Herzschmerzen. Weil der Krankenwagenfahrer sich weigerte, in den Slum (der Slum) zu fahren, haben wir drei Stunden vor einem Hotel auf eine Ärztin gewartet, die der Frau auf offener Straße zwei Spritzen gab. Zur weiteren Behandlung musste die Dame mit dem Bus in ihren acht Stunden entfernten Heimatort fahren. Aber auch dort ist sie nicht ausreichend behandelt worden und später ist sie dann gestorben. Ich habe viele solcher Geschichten erlebt, muss dazu aber auch sagen, dass das Gesundheitssystem in Serbien nicht mit dem hiesigen vergleichbar ist.

Wie haben Sie sich in „Belleville“ ernährt?

Mirkovic: Die meisten Menschen ernähren sich dort aus Mülleimern. Ich selbst habe auch mitgegessen. Manchmal – bei Fleisch und Fischprodukten – hatte ich schon Angst um die Leute. Ich selbst bin Vegetarierin und mein erstes Essen waren kleine Blätterteigtaschen, die alt und muffig schmeckten. Etwa 100.000 Belgrader ernähren sich aus Mülleimern, nicht nur Zigeuner. Tragischerweise versenkt die Stadt seit neuestem Müllcontainer im Boden. Sie haben eine spezielle Klappe. Man kann Müll dort hinein werfen, aber nichts mehr herausholen. Das ist für viele existenzbedrohend.

Was haben Sie von diesem Aufenthalt mitgenommen?

Mirkovic: Vielleicht etwas von der Gelassenheit und der Haltung, das anzunehmen, was einem der Tag bringt. Die Slumbewohner haben sehr wenig Selbstmitleid. Sie stehen auf, es ist Tag und alles drum herum scheint trostlos. Und sie freuen sich am Leben zu sein und versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen.


Weitere Artikel