Bulgarien

Studenten setzen Regierung unter Druck

Junge Leute marschieren im Stechschritt über den Boulevard Rakovski, legen sich auf Straßenkreuzungen auf den Asphalt und formen zusammen das Wort Ostawka – Rücktritt. Die Happenings der Studenten der Nationalen Akademie für Theater- und Filmkunst (NATFIS) stellen Sofias Autofahrer im morgendlichen Berufsverkehr vor schwere Geduldsproben.

Seit einer Woche gehen Bulgariens Studenten nun schon auf die Straße, die NATFIS-Aktivisten bilden die kreative Speerspitze der Proteste. Zunächst hatten Studenten der Sofioter Universität Kliment Ochridski Hörsäle besetzt, inzwischen streiken Studenten im ganzen Land. Ihre einzige Forderung: Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Plamen Orescharski.


Ein solches Protestjahr hat Bulgarien seit dem 1990-er Jahren nicht mehr erlebt

Am Sonntagabend herrscht an der Sofioter Universität strikte Einlasskontrolle. Hunderte Studenten sind gekommen, sie wollen zur Vorlesung von Atanas Tschobanov. Der mit Wikileaks kooperierende Publizist zeichnet vor einem vollen Hörsaal die Verflechtung von Politik und Wirtschaftskriminalität in Bulgarien nach. „Rücktritt der Regierung, Neuwahl auf elektronischem Wege und Säuberung des öffentlichen Lebens von Mitgliedern der kommunistischen Staatssicherheit“, fordert Tschobanov für einen Neubeginn für das politische Bulgarien. Er erhält kräftigen Beifall.

Ein solches Protestjahr hat Bulgarien seit den frühen 1990-er Jahren nicht mehr erlebt. Nachdem Massenproteste gegen hohe Stromrechnungen im Februar das rechtsgerichtete Kabinett Boiko Borissov aus dem Amt gezwungen hatten, ergaben vorgezogene Neuwahlen im Mai ein politisches Patt in der Bulgarischen Nationalversammlung. Nur mit Duldung der nationalistischen Partei Ataka konnte die von Orescharski geführte Koalitionsregierung aus Bulgarischer Sozialistischer Partei (BSP) und der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) der bulgarischen Türken gewählt werden.


Die Studenten folgen dem Aufruf einer Publizistin

Nach nur zwei Wochen im Amt handelte sich Regierungschef Orescharski Mitte Juni den Volkszorn ein, als er den umstrittenen Medienmagnaten Deljan Peevski zum Chef der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS) bestimmte. Seit über 140 Tagen wird nun schon auf Sofias Straßen für seinen Rücktritt demonstriert.

„Wo sind die bulgarischen Studenten?“, fragte die prominente Journalistin Tatjana Waksberg erst vor zwei Wochen in einem Artikel für die bulgarische Redaktion der Deutschen Welle. Wenige Tage nach Waksbergs Polemik besetzten die Studenten die Sofioter Universität. Sie geben dem schwelenden Anti-Regierungsprotest neue Dynamik. Vor den Studentenprotesten konnte sich Regierungschef Orescharski noch Hoffnungen machen, die Rücktrittsforderungen gegen ihn einfach auszusitzen. Doch jetzt scheint seine Macht wieder stärker gefährdet. „Wir besetzen unsere Unis bis zum Rücktritt der Regierung“, rufen die Studenten.

Praktisch während seiner gesamten Amtszeit stehen Orescharskis Entscheidungen im Schatten der Proteste. Beobachter fragen sich, warum sich die Regierenden das überhaupt noch antun, zumal zuletzt veröffentlichte Meinungsumfragen die Sozialisten bei Neuwahlen als stärkste politische Kraft sehen, vor Borissovs Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung“ (GERB) und der DPS. Die nationalistische Ataka könnte den Einzug ins Parlament verfehlen.

Ein Rücktritt der Regierung wäre für die Sozialisten also nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Chance. Sie würden damit die Forderung der außerparlamentarischen Opposition zunächst erfüllen, könnten bei einem tatsächlichen Wahlsieg aber mit neuer Legitimation eine Koalitionsregierung mit der DPS bilden, ohne länger der politischen Willkür der radikalen Ataka ausgeliefert zu sein. Es könnte dies Bulgarien aus dem politischen Chaos führen und zurück auf den Weg der Normalität.


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