„Behandelt uns wie Menschen, nicht wie Vieh!”
(...) Meine Brigade in der Nähwerkstatt arbeitet täglich 16 bis 17 Stunden. Von 7.30 Uhr bis 0.30 Uhr. Schlaf gibt es höchstens vier Stunden täglich. Einen freien Tag haben wir in anderthalb Monaten nur einmal. Fast alle Sonntage sind Arbeitstage. Die Verurteilen schreiben Anträge, sie würden gern „freiwillig“ sonntags arbeiten. In Wirklichkeit gibt es natürlich keine Freiwilligkeit, solche Anträge werden unter Zwang geschrieben, nach Order der Gefängnisleitung und der Häftlinge, die den Willen der Gefängnisleitung kundtun.
Nach einem Punk-Gebet in der Moskauer Erlöserkathedrale war Nadeschda Tolokonnikowa von der Punk Band „Pussy Riot” im August 2012 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden. In dem hier veröffentlichten Brief schildert sie die Haftbedingungen im Straflager IK14 in Mordowien, rund 500 Kilometer östlich von Moskau. Nach Veröffentlichung Ihres Briefes ist sie inzwischen in Einzelhaft an einen „sicheren Ort" verlegt worden, Vertreter der föderalen Menschenrechtskommission haben sie dort getroffen.
(...) Niemand wagt es, Ungehorsam zu zeigen – etwa den Antrag auf Sonntagsarbeit nicht zu schreiben oder den Arbeitsplatz vor ein Uhr nachts zu verlassen. Eine 50-jährige Frau hatte gebeten, um 20.00 Uhr statt um 0.30 Uhr in den Wohnbereich gehen zu dürfen, damit sie sich um 22.00 Uhr hinlegen kann und zumindest einmal in der Woche acht Stunden Schlaf bekommt. Ihr ging es gesundheitlich schlecht, sie hatte hohen Blutdruck.
Als Reaktion wurde eine Gruppenversammlung einberufen, die Frau gemaßregelt, erniedrigt und als Schmarotzerin beschimpft . „Was, hast du es eher nötig, zu schlafen als die anderen? Dich sollte man richtig einspannen, du Pferd!“
Wenn jemand aus einer Brigade krankgeschrieben ist und nicht zur Arbeit kommt, wird ebenfalls Druck ausgeübt. „Ich hatte 40 Grad Fieber und hab trotzdem genäht, macht doch nichts! Hast du denn überlegt, wer deine Näharbeit erledigen soll?“ (...)
Der Alltag in der Kolonie ist so aufgebaut, dass die Unterdrückung des Willen des Einzelnen, seine Einschüchterung, seine Verwandlung in einen stummen Sklaven durch die Häftlinge selbst geschieht, nämlich durch solche Häftlinge, welche die Brigaden leiten und Order von der Gefängnisleitung bekommen. (...)
Um die Disziplin und Fügsamkeit der Häftlinge zu erhalten wird oft ein System von informellen Strafen eingesetzt: wie das Verbot, die Baracke zu betreten, egal, ob es Herbst oder Winter ist.
Im (...) Trupp für Behinderte und Renter gibt es eine Frau, der wegen des Zutrittsverbots ein Bein und Finger an den Händen amputiert werden mussten. Dann gibt es noch das Hygieneverbot – dann kann man sich nicht waschen und auf die Toilette gehen. Es gibt das noch das Verbot, eigenes Essen und Getränke an den Arbeitsplatz zu bringen. Es ist gleichzeitig belustigend und schrecklich, wenn eine erwachsene Frau von etwa 40 Jahren sagt: „So, heute wurden wir bestraft. Wird man uns denn morgen auch bestrafen?“ Sie kann nicht aus der Werkshalle rausgehen, um zu pissen, sie darf kein Bonbon aus ihrer eigenen Handtasche nehmen. Es ist verboten. (...)
„Wärst du nicht Tolokonnikowa, hätte man dich schon längst ******“, sagen mir die Günstlinge der Gefängnisleitung. Es stimmt, denn andere werden geschlagen. Wegen Nichterfüllung der Norm: auf die Nieren, ins Gesicht. Geschlagen von Häftlingen, aber niemand wird ohne ausdrückliches Einverständnis und ohne Kenntnis der Gefängnisleitung verprügelt. Vor einem Jahr, noch ehe ich hierher kam, wurde eine Roma-Frau im dritten Trupp zu Tode geprügelt – der dritte Trupp wird in der Regel für tägliche Prügelstrafen eingesetzt. Sie starb in der Sanitätsabteilung, die Todesursache konnte die Gefängnisleitung verbergen - man hat „Schlaganfall“ angegeben. In einem anderen Trupp wurden die Neuzugänge nackt ausgezogen und an die Nähmaschinen gesetzt. Niemand wagt es, sich bei der Gefängnisleitung zu beschweren, weil die einen nur anlächeln und zurück in den Trupp schicken, wo man als Petze verprügelt wird, auf Order der Gefängnisleitung. Dieses System ist äußerst günstig für die Gefängnisleitung, es stellt die totale Unterordnung der Häftlinge unter das Regime der Rechtlosigkeit sicher. (...)
Im Produktionsbereich herrscht eine bedrohlich nervöse Atmosphäre. Die ständig unausgeschlafenen Häftlinge, ausgelaugt von der Jagd auf die unerfüllbare Produktionsnorm, sind bereit, auf der Stelle auszurasten, sich zu prügeln, fast ohne Anlass. Es ist gar nicht so lange her, da wurde einer jungen Frau der Kopf mit einer Schere eingeschlagen, weil sie nicht rechtzeitig eine Hose geliefert hat. Eine andere wollte sich vor ein paar Tagen den Bauch mit einer Säge aufspießen, man hat sie aufgehalten. (...)
Anscheinend als Erziehungsmaßnahme bekommen wir immer nur hartes Brot, reichlich mit Wasser verdünnte Milch, ausschließlich ranzige Hirse und verfaulte Kartoffeln zu essen. Diesen Sommer wurden in der Kolonie sackweise schleimig-schwarze Kartoffeln angeliefert. Was hat man an uns nicht alles verfüttert.
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Über die Verletzungen häuslicher und produktionsmäßiger Normen im Straflager kann man ewig sprechen. Aber mein Haupteinwand gegen das Straflager ist anders gelagert – das Straflager verhindert mit härtesten Mitteln, dass Beschwerden nach außen durchsickern. Mein Haupteinwand ist der folgende: Die Gefängnisleitung zwingt die Menschen zu schweigen. (...)
Ich hatte mich an die Gefängnisleitung gewandt mit dem Vorschlag, den Konflikt beizulegen. Der Konflikt kann gelöst werden, wenn man mich von dem Druck befreit, den die Häftlinge im Auftrag der Gefängnisleitung auf mich ausüben; der Konflikt kann gelöst werden, wenn man die Sklavenarbeit im Straflager aufhebt, wenn man den Arbeitstag verkürzt und ihn in Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen für weibliche Häftlinge bringt. Als Reaktion darauf hat der Druck nur weiter zugenommen. Deswegen trete ich am 23. September in den Hungerstreik und weigere mich, an der Sklavenarbeit im Lager teilzunehmen, bis die Gefängnisleitung endlich das Gesetz befolgt und die Häftlinge nicht wie Vieh behandelt, sondern wie Menschen.
Nadeschda Tolokonnikowa
Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost
Hier finden Sie den Text im Original