Russland

Volksheld Nawalny

Oleg Kaschin, geboren 1980, ist ein bekannter russischer investigativer Journalist und Kremlkritiker. Er arbeitet bei der unabhängigen Tageszeitung Kommersant.
Oleg Kaschin, geboren 1980, ist
investigativer Journalist und Kremlkritiker.

Mit Alexej Nawalny bietet endlich jemand dem korrupten System die Stirn, findet der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin.





Neulich fuhr ich mit Freunden in ihrem „Lexus“ durch Moskau. Auf ihrer Heckscheibe steht in großen Buchstaben „Nawalny“ – solche Aufkleber bekommt man im Wahlkampfbüro des Bürgermeisterkandidaten.

Irgendwann mussten wir einen Parkplatz suchen. Es gab aber keine freien Plätze, dafür standen auf dem Bürgersteig entlang der Straße Dutzende Autos. „Vielleicht stellen wir uns auf den Bürgersteig?“, fragte ich zaghaft. Mein Freund, den ich bis dahin nicht unbedingt als gesetzestreuen Bürger erlebt hatte, warf mir daraufhin einen strengen Blick zu: „Wie kannst du nur so etwas sagen? Wir haben doch einen Aufkleber von Nawalny drauf, wir dürfen nicht gegen das Gesetz verstoßen.“


Nawalny steht für Gesetzestreue in einem korrupten System

Vor einigen Jahren führte ich ein Interview mit Nawalny. Damals war er noch kein bekannter Politiker, sondern nur ein bekannter Blogger, der über Korruption schrieb. Aus irgendeinem Grund fing er damals an, über das Parken auf Bürgersteigen zu sprechen. In Russland ist das verboten, aber alle stellen ihre Wagen trotzdem hin.

Nawalny sagte mir, dass es in Russland schon genügend Menschen gebe, denen das nicht gefalle. Diese Menschen wollten in Ruhe auf den Bürgersteigen gehen, und sie verstünden gleichzeitig, dass dafür schlicht und einfach das bestehende Gesetz eingehalten werden müsse.

Heute sehe ich diese Menschen. Es sind nicht nur meine Freunde und die Tausenden Moskauer auf den Demonstrationen für Nawalny. Ihre genaue Zahl erfahren wir in der Nacht nach den Bürgermeisterwahlen am kommenden Sonntag. Je größer die Zahl dieser Wähler sein wird, desto weniger Chancen wird das politische System Putins haben, in dem politische Opponenten ins Gefängnis geworfen werden, wo der Erfolg deines Geschäfts davon abhängt, wie nah du dem Präsidenten bist, und wo die Wahlen derjenige gewinnt, der im Kreml ausgewählt wurde.


Viele Russen träumen vom Rechtsstaat

Es gibt eine Menge Gerüchte über Nawalny. Die einen halten ihn für einen radikalen Nationalisten und autoritären Führer. Andere verdächtigen ihn heimlicher Verbindungen zum Kreml, die es ihm erlaubt haben, trotz seiner Verurteilung Bürgermeisterkandidat zu werden – und nicht ins Gefängnis zu kommen. Regelmäßig taucht die Version auf, dass hinter ihm reiche Geschäftsmänner stehen.

Aber Nawalnys Geheimnis besteht darin, dass kein einziges dieser Details Bedeutung hat. Denn das tatsächliche politische Subjekt, das Putin heute die Stirn bietet, ist nicht Alexej Nawalny, sondern die einfachen Bürger Russlands, die von einem Land träumen, wo Gesetze ganz einfach gelten, und wo niemand auf den Bürgersteigen parkt.

Jelena Kostjuschenko, geboren 1987, ist eine der bekanntesten Journalistinnen der „Nowaja Gaseta“.
Jelena Kostjuschenko, geboren 1987,
ist eine der bekanntesten Journalistinnen
der „Nowaja Gaseta“.

Die kremlkritische Journalistin Jelena Kostjutschenko kritisiert, dass mit Alexej Nawalny die Hoffung auf Wandel ausgerechnet von einem Nationalisten personifiziert wird.





Hauptthema im Wahlkampf um das Moskauer Bürgermeisteramt sind die illegalen Einwanderer. Zum einen ist es Bürgermeister Sergej Sobjanin, der diese Karte ausspielt, zum anderen ist es auch die Opposition. Sobjanin errichtete vor einigen Wochen ein Zeltlager für Migranten, denen die Ausweisung bevorsteht. Die Stadt organisierte für Journalisten sogar Führungen durch das Lager.

Und leider habe ich den Oppositionskandidaten Alexej Nawalny dabei ertappt, dass er den Anteil der Migranten in der Verbrechensstatistik zweieinhalb Mal höher angibt als dies der Fall ist: Er spricht von 50 Prozent, dabei sind es nur 20. Gleichzeitig schlägt Nawalny das härteste Programm zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung vor: Ein Verbot für Ausländer, in städtischen Betrieben zu arbeiten, und die Einführung von Visa für Menschen aus Zentralasien und dem Südkaukasus. „Sie werden merken, wie innerhalb eines Jahres die Zahl der Migranten sinkt“, verspricht der Kandidat.


Nawalny-Anhänger reagieren mit Hass auf Kritik

Gleichzeitig empfindet die Armee der Nawalny-Anhänger jede Frage, geschweige denn Kritik, als einen böswilligen Angriff. Als ich auf die verfälschten Zahlen hinwies und die korrekten Zahlen zitierte, erlebte ich eine nie gesehene Welle des Hasses, der Intoleranz und des Spotts, die selbst mich als hartgesottene LGBT-Aktivistin überraschte.

Aber ich kann sie schon verstehen. Dasselbe Gefühl, das sie dazu bringt, in meinem Blog „Du bist eine Sobjanin-Schlampe“ zu schreiben, erlaubt es Nawalny, seine Wahlkampagne mit Geldspenden von Wählern und mittelständischen Unternehmern zu führen. Dieses Gefühl bringt tausende von Freiwilligen – viele von ihnen mit Universitätsabschluss – dazu, in der Metro und auf der Straße Aufkleber und Zeitungen zu verteilen, ob nachts oder im Regen. Dieses Gefühl bringt konservative Moskauer dazu, auf ihren Balkonen Nawalny-Banner aufzuhängen. Dieses Gefühl ist die Hoffnung, und zwar die letzte.


Die Hoffnung auf Wandel wird leider von einem Nationalisten personifiziert

Zur Zeit liegen verschiedene Erwartungen in der Luft: Kommt es zu positiven Veränderungen oder zu Repressionen?

In erschreckendem Tempo werden Gesetze verschärft, bald werden wieder zwölf Menschen in den Knast wandern, die im vergangenen Jahr auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz gegen Putin demonstrierten. Nur kurz flammen Proteste in kleineren Städten auf. Alle haben das Gefühl, dass das Regime sehr bald, vielleicht schon in dieser Sitzungsperiode, endgültig über die Frage seiner Legitimität entscheidet.

Nawalny ist ein junger und hübscher Kerl, ein kluger und gewandter Kämpfer gegen die Korruption, der sein politisches Kapital noch nicht verspielt hat. Der bereit ist, sich mit den Moskauern fünfmal pro Tag zu treffen, und der gezeigt hat, dass er keine Angst vor dem Gefängnis hat.

Nawalny steht für die Hoffnung, dass man dem Regime die Stirn bieten kann. Es ist traurig, dass diese Hoffnung von einem Nationalisten personifiziert wird, der es mit Zahlen nicht so genau nimmt. Und die Menschen sind bereit, ihm das zu verzeihen. Sie opfern die „unbedeutende“ Frage der Migranten für die Hoffnung auf eine bessere eigene Zukunft.

Aus dem Russischen von Moritz Gathmann

Weitere Beiträge aus dem „Russischen Quintett“


42

Weitere Artikel