Business mit Handicap
Wenn die Chefin den Laden betritt, hören die Kunden des Schönheitssalons „Arsu“ sie schon, bevor sie zu sehen ist. Ein resolutes tock-tock-tock eilt Arsu Almassowa voraus. Mit schnellen Schritten überquert sie an Krücken den Hof und schlüpft zum Hintereingang hinein. Dann steht sie inmitten von Drehstühlen, Spiegeln und Kopfwaschbecken – eine sehr kleine, elegante und zarte Person, gestützt auf kurze Krücken mit blauem Polster, die sie unter die Achseln geklemmt hat. Mit raschen Blick erfasst sie die Situation: „Ah ja, ein Kurzhaarschnitt – wird bedient. Die Dame vom Zeitungsstand: Färben, Schneiden, Fönen. Ach, und Dinara Walichanowna, die wartet schon auf die Maniküre.“
Mit ihrem Schönheitssalon trifft Arsu in eine Marktlücke
Arsu begrüßt Letztere freundlich und dirigiert sie bestimmt zum Maniküretisch. Dann lehnt sie ihre Krücken an die Wand und klettert auf einen Stuhl, der Kundin gegenüber. Mit sanftem Griff nimmt sie deren Hand und taucht sie in ein bauchiges Glas mit in Wasser schwimmenden Blütenblättern. „Stammkundinnen behandele ich bis heute noch selbst“, sagt sie und lächelt.
Der Schönheitssalon von Arsu Almassowa ist eine Institution in Akschar. In dem kleinen Vorort von Almaty, im Süden Kasachstans, war er im Jahr 2000 der erste Salon überhaupt – eine Marktlücke.
Heute hat Arsu noch einen zweiten Salon und ein kleines Kaufhaus für Lebensmittel, Kosmetik, Kleidung und alles andere, was man schnell mal eben brauchen könnte.
„Ich habe keine Komplexe”
Insgesamt beschäftigt Arsu rund 30 Angestellte. Sie ist eine typische Geschäftsfrau, wie es sie zu Tausenden gibt in Kasachstan, eine „Bisnessmenka“, eine Patriarchin, die ihre Angestellten mit mütterlicher Zuwendung und harter Hand zugleich führt. Sie ist 35 Jahre alt. Und sie hat Osteogenesis imperfecta, die Glasknochenkrankheit. Sie selbst sagt: „Ich fühle mich nicht behindert, ich habe keine Komplexe.“
Ihre Kindheit hat Arsu über lange Strecken in Gips zugebracht, Knochenbrüche bestimmten ihr Leben. Doch ihre Eltern sorgten dafür, dass sie zuhause unterrichtet wurde – „als eines der ersten Kinder in Kasachstan überhaupt“, wie sie sagt. Als Vater und Bruder, die Ernährer der Familie, kurz hintereinander starben, war Arsu 21 Jahre alt. Die Häufigkeit der Brüche hatte nachgelassen, so wollte sie die Familie finanziell unterstützen und kam auf die die Idee mit dem Schönheitssalon. Rund 4.000 Dollar lieh sie bei Bekannten, dann lief das Geschäft. „Ich bin nichts Besonderes“, sagt sie von sich, „aber manchmal kommt mir das alles selbst vor wie ein Märchen.“
„Das meiste Geld versickert irgendwo”
Arsu kann ohne Krücken nicht laufen, weil sich Skelett und Muskeln nie richtig entwickeln konnten, ihr Oberkörper ist krumm. Sie ist klein, doch trotz ihrer 1,25 Meter wirkt Arsu geradezu einschüchternd: Sie lacht oft und gern, aber was sie von sich selbst fordert – sich zu verausgaben, manchmal unter Schmerzen – erwartet sie deutlich spürbar auch von ihrer Umgebung.
„Als erfolgreiche und gleichzeitig behinderte Unternehmerin ist Arsu Almassowa in Kasachstan sicher eine große Ausnahme“, schätzt Georgi Tschetwerikow aus Pawlodar, rund 1.200 km nördlich von Almaty. Der 61-Jährige ist ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechte von Behinderten – vom Rollstuhl aus. Mit 22 Jahren brach er sich bei einem Sprung ins Wasser die Wirbelsäule, seitdem ist er querschnittsgelähmt, kann zwar die Arme bewegen, nicht aber die Hände. Heute arbeitet er für die staatliche Behindertenvereinigung des Verwaltungsgebiets Pawlodar, die rund 27.000 Behinderte vertritt, und ist Berater des Gouverneurs für Behinderten-Fragen.
Zwar sind die Aufwendungen Kasachstans für Behinderte nicht unerheblich: Laut dem kasachischen Ministerium für Arbeit und sozialen Schutz der Bevölkerung hat der Staat im Jahr 2011 den rund 500.000 Behinderten des Landes 453 Millionen Euro an Renten ausgezahlt. Für andere Sozialleistungen kamen in den vergangenen fünf Jahren weitere 175 Mio. Euro im Rahmen eines „Nationalen Aktionsplans“ für Menschen mit Behinderungen hinzu. In den nächsten fünf Jahren sollen diese zusätzlichen Ausgaben rund 510 Mio. Euro betragen. Doch längst nicht alles davon kommt tatsächlich bei den Betroffenen an. „Das meiste Geld versickert irgendwo“, sagt Georgi.
„Bevormundung gehört bei Vielen zum Verständnis staatlicher Fürsorge”
Arsu Almassowa aus Almaty dagegen will Kritik am kasachischen Sozialsystem nicht gelten lassen: „Wir sind ein junger Staat. Und Menschen, die sich persönlich bereichern wollen, gibt es überall.“ Von anderen Behinderten distanziert sie sich. Sie kenne niemanden, der in einer ähnlichen Situation sei wie sie. Zudem lehne sie ab, dass Behinderte häufig unter sich blieben, um sich Vorurteilen nicht auszusetzen. „Bei uns werden Menschen mit Behinderung oft als Bittsteller angesehen. Aber das ist nicht mein Leben!“ Arsu meint, wenn man es nur wolle, dann könne man es auch schaffen im Leben – so wie sie.
Das Fatale sei, so Georgi Tschetwerikow aus Pawlodar, dass sich in Kasachstan tatsächlich viele Menschen mit Behinderung weder an der Zuteilung von Hilfsmitteln störten, noch an der Korruption im Sozialsystem: „Dass der Staat Behinderte derartig bevormundet, gehört bei uns zum Verständnis staatlicher sozialer Fürsorge.“ Viele seien der Überzeugung, dass der Staat ist für sie verantwortlich sei. „Doch wie soll man unter solchen Voraussetzungen ein Geschäft aufbauen?“
Schwerbehinderte bekommen keinen Kredit
Georgi hat sich so viel Unabhängigkeit erkämpft wie möglich. In seiner Heimatstadt ist er mit einem Elektrorollstuhl unterwegs, den er per Joystick bedient, weite Strecken legt er in seinem umgebauten Kleintransporter zurück. Per Rampe fährt er mit dem Rollstuhl direkt ans Lenkrad.
Georgi sprudelt über vor Ideen und Plänen. Ihm ist der Bau von Rampen an öffentlichen Gebäuden in Pawlodar zu verdanken, mit Freunden und Bekannten organisiert er Behindertensport und -urlaubsreisen, er unterhält Kontakte zu anderen Betroffenen im Ausland. Sein Handy am Band um den Hals läutet unaufhörlich, er hat Organisationstalent, ist für alle ansprechbar und – so scheint es – ein geborener Unternehmer. „Allein die Bedürfnisse von Behinderten bieten eigentlich ein großes Potenzial für Unternehmen im Dienstleistungsbereich“, sagt Georgi.
So würde Georgi gern einen professionellen Hauskrankenpflegedienst aufbauen oder einen Anpassungs- und Reparaturservice für Rollstühle. Doch dass in Kasachstan aus dieser Idee kein funktionierendes Geschäftsmodell werden kann, hat viele Gründe. „Mir als Schwerbehindertem würde niemand einen Kredit geben“, sagt Georgi. Bei Banken eine Anschubfinanzierung für ein eigenes Unternehmen zu erhalten – und sei es mit einem nicht behinderten Partner – sei für solche Geschäftsideen quasi unmöglich.
Nicht-Behinderte haben Vorrang
Unabhängig davon, dass die Beschaffung von Rollstühlen, Prothesen oder ähnlichen Hilfsmitteln über den Sozialdienst läuft, haben Menschen mit Behinderung keinen großen finanziellen Spielraum, um sich nötige Hilfen nach Bedarf selbst zu kaufen. Die monatliche Invalidenrente variiert – je nach Grad der Behinderung – zwischen umgerechnet rund 75 Euro und maximal 140 Euro für Schwerstbehinderte wie Georgi. Das monatliche Durchschnittseinkommen in Kasachstan liegt bei rund 500 Euro.
Georgi könnte seine Dienste der Stadt anbieten. „Das habe ich versucht“, winkt er ab. „In einem Jahr habe ich tatsächlich die Ausschreibung für einen Rollstuhlreparatur-Service gewonnen.“ Daraufhin habe sich ein nicht behinderter Unternehmer beschwert, dass Georgi, ein Behinderter, ihm, dem Gesunden, die Arbeit wegnähme. „Und so hat er den Zuschlag bekommen.“