Tschechien

Rockend und rollend

Lada Angelovic hält sich ein Mikrofon an seinen Mund und sagt mit leicht rasselnder Stimme: „Liebe Kinder, bitte hört immer schön auf eure Muttis, sonst endet ihr irgendwann so wie wir – im Rollstuhl“. Lada lacht laut, aber nicht jeder im Publikum traut sich mitzulachen.

Im Prager Viertel Alt-Bohnice ist Stadtteilfest, die Sonne scheint, das Bier fließt aus dem Zapfhahn und das Publikum wartet auf die Schlussband „The Tap Tap“. Wie Lada Angelovic sind auch die anderen Musiker der Gruppe körperlich beeinträchtigt: Manche hatten einen Unfall, anderen haben Knochen-, Gelenks- oder Muskelkrankheiten.

Während unterhalb der Bühne Kleinkinder toben, sitzt Lada Angelovic am rechten Bühnenrand in seinem Rollstuhl und moderiert. Keine einfache Aufgabe, die gleichzeitig ablaufende Tonprobe dauert gut 50 Minuten. Immerhin müssen die Mikrofone von 17 Musikern und Sängern optimal eingestellt werden.


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Elektronische Trommeln, wenn die Kraft für die Pauke fehlt

Beim Soundcheck erklingen Bongos, Trommeln und Tamburine sowie spezielle Instrumente wie elektronische Drumpads. Das sind Plastik-Konsolen mit großen erhabenen Feldern. Jedes davon produziert bei Berührung einen anderen Ton. Instrumente wie diese sind wichtig für die tschechische Band. Nicht jedes Mitglied besitzt die Kraft und Feinmotorik, um mit einem Schlägel eine herkömmliche Pauke zu schlagen.

Bei Lada Angelovic funktioniert alles irgendwie, aber eben nicht immer so, wie er will, weil sein zentrales Nervensystem erkrankt ist. „Eigentlich ist es egal, wie lange das hier noch dauert“, frotzelt er ins Mikrofon, „Ihr Eintrittsgeld bekommen Sie sowieso nicht zurück“. Die Zuschauer lachen, lauschen, applaudieren und warten gespannt, was auf der Bühne passiert. Heute werden „The Tap Tap“von ein paar zusätzlichen Musikern unterstützt. Sie spielen Querflöte, Tuba, Schlagzeug, Saxophon und das Piano.

Die 66-jährige Zdenka Belikova beobachtet alles aus der ersten Reihe. Sie hat die Musiker schon einmal im Fernsehen gesehen und freut sich auf den preisgekrönten Hit „Riditel autobusu“ - auf deutsch „Der Busfahrer“. Das Lied aus der Feder des tschechischen Sängers und Liedermachers „Xindl X“ erzählt die wahre Geschichte des kleinwüchsigen Marek Valenta, der früher Mitglied bei „The Tap Tap“ war. Zur schnelleren Fortbewegung benutzt er ein kleines Kinder-Fahrrad, mit dem ihm schon unzählige Male an Prager Bushaltestellen der Zustieg verwehrt wurde. Und das, obwohl in Tschechien verschiedenste Mobilitätshilfen mit in Busse genommen werden dürfen – eigentlich.


Bissig-ironische Texte über die Situation von Behinderten

Immer wieder macht die Band mit humorvollen bis bissig-ironischen Texten auf die Lebenssituation von Behinderten aufmerksam und reißt dabei die Zuhörer mit. Aber auch die Bandmitglieder haben Spaß: In Alt-Bohnice beugt sich Sängerin Jana Augustinova mehrfach zu Michal Kabat herüber und die beiden Rollifahrer schmettern gemeinsam den Refrain von „Der Busfahrer“ in ein Mikro. Kleine Kinder tanzen ausgelassen vor der Bühne, die Band blickt in die lächelnden Gesichter von Eltern, Jugendlichen und Großeltern.

Zdenka Belikova ist begeistert: „Ich finde es toll, dass die jungen Leute auf der Bühne so aktiv sind.“ Außerhalb der Auftritte sind die Reaktionen auf die Bandmitglieder nicht immer so positiv. Lada Angelovic erzählt: „Nur weil manche von uns ein bisschen merkwürdig aussehen und merkwürdig sprechen, glauben viele Menschen, dass wir auch merkwürdig denken.“ Der 33-Jährige hält schwarzen Humor für ein gutes Mittel, um den ewigen Ernst um das Thema Behinderung zu durchbrechen. Lada Angelovic ist nicht nur Moderator, sondern auch Pressesprecher der Band – und von Anfang an dabei.

Vor 15 Jahren hat der Sozialpädagoge Simon Ornest „The Tap Tap“ gegründet. Auch heute noch dirigiert er die Band: „Anfangs war das nur ein Nachmittagsangebot für die Kinder und Jugendlichen aus dem Jedlicka-Institut.“ Seit einhundert Jahren besuchen behinderte Menschen zwischen sechs und 25 Jahren diese Prager Sozialeinrichtung, derzeit gehen dort rund 200 Kinder zur Schule und werden fit gemacht für das Berufsleben. Ursprünglich hatte der tschechische Chirurg und Radiologe Rudolf Jedlicka das Institut gegründet, um aus „bettelnden Invaliden“ arbeitende Steuerzahler machen.

Den gleichen Ansatz in modernisierter Form verfolgt auch Simon Ornest mit „The Tap Tap“. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, darin sind sich der Kapellmeister und Lada Angelovic einig. Wer „The Tap Tap“ buchen will, muss dafür zahlen. „Ich beziehe nur eine minimale staatliche Rente für meinen Lebensunterhalt“, erzählt Lada Angelovic. Bücher oder Kinokarten kauft er sich lieber von seinem eigenen Geld, das er mit den Auftritten verdient.


Wer mag, darf mitspielen – aber Disziplin muss sein

„The Tap Tap“ ist keine geschlossene Gruppe – wer mag, darf mitspielen. Nicht einmal Musikalität ist ein Muss, dafür aber Fleiß und Disziplin. Simon Ornest dirigiert mit vollem Körpereinsatz, geht in die Knie, stampft kraftvoll auf und unterstützt damit jene Bandmitglieder, die nicht selbständig auf den Rhythmus reagieren können. Einer der Trommler hält ständigen Blickkontakt zu ihm und setzt jede übertriebene Geste des 49-Jährigen um. Das funktioniert, der dominante Rhythmus bringt die Zuschauer zum Tanzen.

„95 Prozent der angehenden Bandmitglieder kommen nach der dritten Probe nicht wieder“, erklärt Simon Ornest. Viele hätten anfangs sehr romantische Vorstellungen vom Bandleben und seien es nicht gewohnt, dass jemand etwas von ihnen verlange. „Wenn sie feststellen, dass wir mindestens zweimal pro Woche proben und viel Zeit auf dem Weg zu Konzerten verbringen, dann ist schnell Schluss mit der Begeisterung.“

Außerdem müssen alle pünktlich sein und Verabredungen einhalten. Da kennt der Sozialpädagoge kein Pardon: „Denn das sind die Grundregeln, die auch im Berufs- oder Familienleben gelten. Nur wer sie beherrscht, kann erfolgreich sein.“ Erst neulich hat der Kapellmeister einem zu spät angerückten Jungen mit Asperger-Sydrom die Türe des Probenraums vor der Nase zugemacht. „Menschen mit Behinderungen unterschätzen sich oft selbst“, weiß Simon Ornest, „Und wenn sie dann auch noch Opfer von übertriebener, ständiger Pflege sind, dann gewöhnen sie sich sehr schnell daran, gar keine Verantwortung mehr zu tragen und das auch noch normal zu finden.“

Tatsächlich war das für die meisten behinderten Menschen in der ehemaligen Tschechoslowakei Alltag: „Zu Zeiten des Sozialismus lebten sie am Rande der Gesellschaft, oft untergebracht in Heimen, die in Grenzgebieten lagen und abhängig von Betreuern, die uneingeschränkt über sie herrschen konnten,“ erinnert sich Kristina Stoszkova von der Caritas im mährischen Ostrava. Inzwischen hätten die rund 900.000 Behinderten in Tschechien eine gute gesellschaftliche Stellung.


Für ein selbstbestimmtes Leben braucht es Mut

Allerdings stecke der Staat sie mit Hilfe von Gesetzen in unterschiedliche Schubladen, aus denen viele nicht aus eigener Kraft heraus kämen. Stoszkova weiß: „Nur, wer besonders von seiner Umgebung unterstützt wird und viel Durchsetzungskraft und Mut hat, kann es heute schaffen, so zu leben, wie er selbst möchte.“

Lada Angelovic führt ein selbstbestimmtes Leben: „Viele Behinderte denken, der Staat hätte die Pflicht, sie zu retten. Ich sehe das anders.“ Der 33-jährige Rollstuhlfahrer wohnt in einer Prager Hochhaussiedlung. Zwei Stunden benötigt er morgens, um sich ausgehfertig zu machen. 20 Minuten fährt er dann mit der U-Bahn ins Zentrum, zur Karlsuniversität, wo er Philosophie studiert.

Zwei Zugaben haben „The Tap Tap“ schon gesungen. Zum Abschluss schmettern sie eine heitere Polka, es folgt tosender Applaus. Sängerin Jana Augustinova genießt diese Momente und quittiert sie mit herzlichem Lachen. Verbeugen kann sich die junge Frau im Rollstuhl nicht, aber sie nickt mit dem Kopf. „Ich mag es, die Menschen zu überraschen,“ sagt die 25-Jährige. Der Beifall und die dadurch ausgedrückte Anerkennung sind ihr wichtig. „Wozu immer dieses Mitleid? Wir können genau so funktionieren wie andere auch!“


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