Gewalt ist seine Lösung
„Einen Heimtrainer habe ich nicht, Geld auch nicht, aber gestern, da habe ich auf dem Rjasanski Prospekt einen Kerl mit einem Eimer verdroschen“, sagt Fedja. Er wird wenige Jahre später vor seiner eigenen Haustür abgestochen.
Es ist eine erbarmungslose Welt, in der die Protagonisten von „Exodus“ leben, eine Welt voll sinnloser Gewalt. Die jungen Moskauer liefern sich am 1. Mai Straßenschlachten mit der Polizei. Sie werden festgenommen und schon auf dem Weg zur Wache „durchgefickt“. Sie fahren zu Auswärtsspielen nach Kiew, Minsk, Rjasan, um sich mit Hooligans und Nazis zu schlagen. Inmitten der Raserei improvisierter Punk-Konzerte prügeln sie sich durch feuchte, dreckige Keller.
Der Autor steht auf der Fahndungsliste
In einer atemlosen Abfolge aus Anekdoten und Reflexionen, Gedankenströmen und Hasstiraden beschreibt der Ich-Erzähler nicht nur das Leben einer anarchischen, antifaschistischen Subkultur. Er zeichnet das Porträt einer verlorenen Generation im Russland der 2000er Jahre.
Geschrieben hat das nur 130 Seiten starke Werk der 1985 in Moskau geborene Piotr Silaev. Er verfasste es 2008 in Griechenland, wohin er vor einer drohenden Verhaftung geflüchtet war. Als „Exodus“ 2011 in Russland erschien, war Silaev, der zur russische Anarcho-Szene gehörte, wieder im Exil: Weil er sich im Sommer zuvor an der Demonstration gegen die geplante Autobahn Moskau – St. Petersburg beteiligt hatte, wurde er auf eine landesweite Fahndungsliste gesetzt. Heute lebt er in Spanien.
„Du musst immer lügen“, heißt es in „Exodus“ – „hast gefälschte Papiere, eine gefälschte Geschichte, Vergangenheit, eine Legende“. Wie viel in der Erzählung Dichtung ist und wie viel Wahrheit, ist schwer zu sagen. Der Süddeutschen Zeitung sagte Silaev, seine schlimmsten Erlebnisse habe er noch nicht mal in das Buch aufgenommen.
Schmerzen ertragen als Gaudi
Dabei ist „Exodus“ voll von drastischen Szenen, die Silaev seinem Lesern voller Lakonie vor den Latz knallt: „Wir gingen ins Dorf, um Gegner zu suchen“, heißt es da einmal. „Die Eisenstangen kamen gleich zum Einsatz, Flaschen zischten herum, ich wurde ganz schön eingepudert, schwere Stiefel spazierten fein über meinen Kopf.“
Massenschlägereien ohne Grund, Schmerzen ertragen als Gaudi: Auf die Frage nach dem Ursprung all dieser Wut gibt es eine einfache Antwort in der Biografie des Erzählers. „Von Kindheit an hat mich das Leben gelehrt: Liebe den Schmerz“, schreibt er. „Meine Mutter hat mich ständig geschlagen.“ Die weniger einfache Antwort liegt in der kollektiven Biografie seiner Generation, die an die Sowjetunion kaum Erinnerung hat, sich aber im neuen Russland entweder anpassen muss oder untergeht.
Der Erzähler und seine Kumpel gehören zur letzteren Gruppe, zu den „echten Sowjetmenschen“, die hier die Guten sind. Sie lehnen sich auf gegen ein korruptes System, in dem nur derjenige es schafft, der an sich selbst zuerst denkt, nach oben buckelt und nach unten tritt – ganz besonders in der Polizei und im Militär: „Wir alle verkaufen unsere Seele, aber das ist einfach zu widerlich.“
Anstelle von Transparenten gibt es was aufs Maul
Auf ihre Weise sind diese jungen Anarchos also politisch – anstelle von Transparenten oder Unterschriftenaktionen, die in diesem System ohnehin nichts bringen, gibt es halt sofort etwas aufs Maul: An einem jungen Mann, der so aussieht, als habe er sich im System arrangiert, „rächt“ sich der Ich-Erzähler mit einem Eisenrohr, „für all die Idioten wie mich, für die Krüppel, die Kranken, für die Kinder des Angestelltenproletariats, für alle Dummen, Infantilen, für die Versager.“
Vorbilder scheint es in dieser Welt keine zu geben. Fasziniert ist der Ich-Erzähler von Stars der Anarchistenszene - dem als Unabomber bekannt gewordenen Terroristen Ted Kaczynski, dem Punkrocker G. G. Allin, der auf die Bühne mit Exkrementen herumsaute und sein Publikum verdrosch. Das Gefühl, dass sein Leben einen Sinn hat, gibt ihm aber die Musik des Blues-Musikers Blind Willie Johnson, der Zeilen wie „Can’t Nobody Hide From God“ sang.
Gott ist in dem Buch ebenso allgegenwärtig wie die Gewalt und die Hoffnungslosigkeit. Wenn der Erzähler jemandem mit einer Eisenstange den Schädel einschlägt, hat das für ihn „etwas von Heiligkeit“, immer wieder zieht es ihn ins Kloster. Als er irgendwann genug hat von all dem Wahnsinn, als etwas „in ihm umfällt“, befiehlt ihm Gott höchstpersönlich, auszuziehen „aus Ägypten, denn dort herrscht Finsternis“. So erlangt die Flucht vor der Staatsmacht in den Westen – die des Erzählers, vielleicht auch die des Autors – überlebensgroße Bedeutung.
Der Soundtrack zur Zerstörungswut
Zum 1. Mai legt Silaevs Alter Ego auf dem Lautsprecherwagen seiner Truppe den Song „Let’s Start a Riot“ auf – den Soundtrack zur Zerstörungswut. Den kann man nicht nur in dieser Szene buchstäblich hören, und der Film zum Buch läuft beim Leser ohnehin die ganze Zeit vor dem inneren Auge ab. Ein Lesevergnügen trotz schwer verdaulicher Gewalt und Gesellschaftskritik – das Erstlingswerk von DJ Stalingrad hätte es glatt verdient, die Nachfolge von Kultbüchern wie „A Clockwork Orange“ und „Trainspotting“ anzutreten.