Exodus
„Alles begann vor langer Zeit. Der rote Tag. Volk in Riesenmassen: Alte Männer, alte Frauen, Irre, Clowns, Narren, Psychos, Idioten, Lügner, Diebe, Spaßvögel. Wir alle. Am roten Tag morgens auf dem Platz zu Füßen des Führers. Bereit, von ihm weg und wie ein purpurnes, flammendes Hallo hinüber zum Großen Lehrmeister zu gehen, der gegenüber vom Bolschoj Theater steht. Ich bin stark erkältet, habe mich nachts mit Medikamenten vollgepumpt, es hat nicht geholfen. Morgens sind wir auf der Suche nach einer Apotheke durch das menschenleere Viertel Samoskworetschje gelaufen, ich im Fieberwahn, glühe, alles verschwimmt vor den Augen. Na geil, das hat gerade noch gefehlt.
Unsre Leute haben sich allmählich versammelt, die Stiefel so rot wie die Flaggen. Daneben eine imposante Kolonne in Schwarz, sieht sehr hart aus, romantisch-revolutionär. In der Mitte steht eine blonde Schönheit im schwarzen Military-Look, die sich auf eine Fahnenstange mit schwarzem Hammer und Sichel stützt, mit den Kämpfern herumblödelt, ihnen Zigaretten anbietet. Ja ... von denen sind wir weit entfernt.
Unsere rote Kolonne, also eigentlich keine Kolonne sondern ein Haufen, ist die letzte bei dieser Parade, hier laufen die Punks, Leute in Rockerlederjacken, Idioten in Stalinmänteln, wir, die Revolution. Alle sind besoffen und zur Tat bereit. um uns herum, am Schwanz dieses linken Marsches – das ganze Pack, kleine Grüppchen von Psychopaten jeder Couleur. Kosaken mit selbstgebastelten Orden in Militärmäntelimitaten, schmächtige orthodoxe Studenten rechtsradikaler Schwarzhunderter, Gottesmutter-Bogoroditschniki-Sektierer in grellen, durchgeknallten Kutten. Ein Teil der Leute mit Ikonen der Mutter Gottes, ein Teil mit Ikonen Stalins. Kurz: Scheiße.“
Es kommt Bewegung auf, wir gehen als Letzte. Die erste Reihe mit einem Transparent, alle halten sich aneinander fest, weil sie so besoffen sind, dass sie sonst umfallen würden. Vor uns – Pioniere, Tulpen, die Warschawjanka, dahinter verderben wir den Parteileuten den Feiertag. »Fick dem Bourgois ins Maul rein – Stalin, Pol Pot sagen fein!« »Reformen enden auf den Schlag mit Stalin, Berija und Gulag.« Die Pioniere, Komsomolzen und Veteranen flippen aus, als sie so was hinter ihrem Rücken hören. Sie flippen noch mehr aus, als ihnen auf dem Weg verfickte Böller und Leuchtkugeln in den Rücken fliegen.
»Hört auf, Böller zu werfen!«, schreien uns wütende Pioniere mit roten Halstüchern an.
»Fangt an, Granaten zu werfen!«, kontert Jura aus der ersten Reihe und fällt auf seinen Nebenmann.
[...]
Schmerz – als solchen nehmen wir die Umwelt wahr. Ein Geräusch dringt durch eine empfindliche Membran, drückt sich als Rille in die Oberfläche einer Vinylplatte. So hinterlässt die Realität, alle ihre Objekte und die Welt als Ganzes durch den Schmerz und als Schmerz ihre Rille auf der Oberfläche unserer Persönlichkeit, formt sie, modelliert sie. Die Maschine ritzt ununterbrochen alle Geräusche der Umgebung auf die leere Schallplatte, alles, was in der Bewegung der Luft existiert, wird zum Ding. Das Leben verletzt uns jede Sekunde durch unsere Augen, Ohren, Nasenlöcher, Mund, Haut – aus uns fließt Blut, und wir werden die, die wir sind. Manchmal rutscht dem Meister die Hand aus, und er setzt einen zu tiefen Schnitt – wir können daran sterben oder durchdrehen. Mit der Zeit sind es zu viele Narben, sie überdecken einander zu oft, und wir hören auf, sie zu spüren, nehmen die Realität nicht mehr in ihren Nuancen wahr. Wir spüren nichts mehr, als würden wir über ein Feld voller Gras aus dünnen scharfen Halmen rennen und uns später wundern, warum die Beine ganz blutig sind.
[...]
»Ich verstehe einfach nicht, was ihr alle habt.« Ein Absolvent der juristischen Fakultät, der mich auf dem Revier vernimmt, lässt ein teures Mobiltelefon zwischen seinen Fingern kreisen. »All die Skins, Punks und so weiter ... Habt ihr nichts zu tun?«
»Kann sein«, gähne ich müde. »Jeder verbringt seine freie Zeit, wie er Bock hat. Der eine hängt in Hauseingängen rum, der andere in Spielhallen. und wieder ein anderer zieht sich gut an, geht zu einem Konzert oder fährt zu einem Auswärtsspiel in eine andere Stadt, amüsiert sich mit fröhlichen Mädchen, interessiert sich für irgendwas, spielt Gitarre in einer Band. Das machen die Klugen, es ist billig und schön. Wir versuchen doch nur, mit unseren begrenzten Mitteln zu leben wie die Könige, wie man so sagt. Doch in dieser Stadt, in Moskau, ist alles immer voller Scheißer, ständig muss man seinen Platz an der Sonne von Dreck säubern. Massen von Idioten stören die Moskauer dabei, schön zu leben und ihren Feierabend zu genießen.«
»Das nennst du ›schön leben‹? Schau mal, ich bin zwanzig und arbeite bei der Miliz. Du dagegen bist vierundzwanzig und arbeitslos, obwohl du einen Uni-Abschluss hast. Diese Schuhe hab ich am Ochotny Rjad gekauft, die sind teurer als deine gesamte Kleidung. Das heißt doch, dass ich besser lebe als du und dass ich klüger bin, oder?«
»Klar. Du arbeitest ja auch bei der Polizei.«
[...]
Wir alle gehören zu der ekelhaften postsowjetischen Generation. Wir haben nichts, keine Ziele und Prinzipien, doch als Erbe von hundert Jahren Kommunismus blieb uns die Sehnsucht. Der Sowjetmensch sollte nichts wollen, persönliches Glück, Freude im Alltag, Freizeitvergnügen, all das, alle Lebensziele des westlichen Siegertyps, rief Spott und Naserümpfen hervor. Der sowjetische Gigant lebte, um sein ehrliches einfaches Leben zu opfern – auf der Baustelle, im Gulag, an der Schießscharte, im Bergwerk, in der kinderreichen Familie, im widerwärtigen Fünfgeschosser. Das Leben – eine Heldentat, ein Opfer. Wir brauchen keinen Jesus, weil hier alle Jesus sind.
Zeit ist vergangen, und geblieben ist uns nur ein Abgrund von Verachtung und Zynismus, pragmatischer Nihilismus, müde Raffgier. Doch die Sehnsucht nach Heldentum sitzt irgendwo tief in uns, in mir und den anderen, die ihre Wohnung noch nicht nach europäischem Standard renoviert haben. Wir sollten im Namen von irgendwas leiden und sterben, aber nun, wo all das egal ist und dumm, ziehen uns nur das Leid und der Tod an. Wenn man nicht mehr weiß, wofür man leidet, kann man wenigstens auf Verdacht hin leiden. Das ist kein orthodoxes Christentum, nicht Dostojewski, das sind die Erzählungen von Schukschin und die Lieder von Wyssozki.
[...]
Der Sowjetmensch ist mein Freund. Ich erkenne ihn an den Augen. Er lügt nicht, spielt nur hilflos mit den Muskeln auf den Wangenknochen. In engen Wohnungen altert er schweigend und lässt sich einen Bart wachsen, unter der Woche trinkt er starken Tee, am Wochenende Wodka. Wenn ich jemanden besuche, schaue ich als erstes die Tapeten an – wenn sie alt sind, mit Blümchenmuster, mit Wasserflecken und Blasen, oder Fototapeten, idiotische Kalender, dann bin ich in einem Haus, in dem man mich versteht. Hier wird ehrlich gelebt, niemandem geglaubt, auf viele herabgeblickt, endlos Tee getrunken und darauf gewartet, dass endlich alles vorbei ist. Herzlich willkommen in der Welt der Verlorenen, Hässlichen, Verschlossenen, Kurzsichtigen. Hier ist mein Zuhause, ich brauche kein anderes.
aus dem Russischen von Friederike Meltendorf
© Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013