Ungarn

Jüdisches Sommerfestival in Nöten

Kopierte Notenblätter liegen auf dem Klavier, bekritzelt mit Anmerkungen, schon rein optisch sieht es nach einem schweren Stück aus. Das Klavier ist ein wenig verstimmt, aber an manchen Stellen passen die schiefen Töne.

Budapest, eine kleine Wohnung im Sechsten Bezirk. Der Pianist Zoltan Neumark, 51, übt die „Suite Jiddisch“ von Norbert Glanzberg ein, jenes wenig bekannten jüdischen Komponisten, der für Edith Piaf so berühmte Chansons wie „Padam-Padam“ schrieb. Seine „Suite Jiddisch“, die 1984 entstand, wird selten aufgeführt, wenn, dann meistens in der Orchesterversion, fast nie in der Ursprungsversion für zwei Klaviere. Zoltan Neumark spielt voller Leichtigkeit Passagen aus dem ersten Satz „In Shtetl“ und erzählt dabei, wie Glanzberg mit seiner Musik das Leben der chassidischen Juden in Osteuropa beschrieb.


Wachsender Antisemitismus und Rechtsradikalismus

Die „Suite Jiddisch“ für zwei Klaviere wird in diesem Jahr zum ersten Mal in Ungarn aufgeführt – als einer der Höhepunkte des Jüdischen Sommerfestivals in Budapest. Gegründet 1998, ist es inzwischen eines der erfolgreichsten Festivals jüdischer Musik in Europa und das größte derartige Kulturereignis in Osteuropa.

Zoltan Neumark trat bisher jedes Jahr auf, mal als Solist, mal auch in Kantorenkonzerten mit internationalen Stars des Synagogengesangs. „Ich warte jedes Jahr mit Freude auf das Festival“, sagt Neumark. „Es hat vor allem viel dazu beigetragen, dass die jiddische Musik wieder ein sehr lebendiger Bestandteil der europäischen Musikkultur ist.“

Ein erfolgreiches jüdisches Musikfestival in einem Land, in dem dieses Jahr der Jüdische Weltkongress tagte, um auf den wachsenden Antisemitismus und Rechtsextremismus aufmerksam zu machen – wie passt das zusammen? Zoltan Neumark legt die Stirn in Falten bei dieser Frage, Politik ist ihm ein Graus. „Ungarn geht es wirtschaftlich sehr schlecht, deshalb wachsen auch Antisemitismus und Antiziganismus“, sagt er lakonisch. „Aber ich fühle mich nicht bedroht. Ich verberge mich nicht, und ich kann mein Judentum in meiner Kunst offen leben.“


Das jüdische Leben blüht wieder auf

So wie Zoltan Neumark empfinden viele Juden in Ungarn. Ihr Lebensgefühl schwankt zwischen Besorgnis und Selbstbewusstsein. Viele fürchten nicht nur die rechtsextreme 17-Prozent-Partei Jobbik, sondern vor allem die antikapitalistisch-antiliberal-antieuropäische Rethorik der rechtkonservativ-nationalistischen Regierungmehrheit unter dem Ministerpräsidenten Viktor Orban, eine Rethorik, mit der in versteckter Weise antisemitische Ressentiments bedient werden. Explizit ist auch die Kultur- und Bildungspolitik: Überall im Land stehen Statuen und Gedenktafeln für antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, ihre Lektüre wird im Nationalen Grundlehrplan für Schulen ausdrücklich empfohlen.

Zugleich gibt es eine Renaissance jüdischen Lebens, vor allem in Budapest. In Ungarn leben knapp 100.000 Juden, die ungarische Hauptstadt hat die größte jüdische Gemeinde Osteuropas, das jüdische Viertel ist eine der Touristenattraktionen Budapests. Zum jährlichen Budapester „Marsch des Lebens“, mit dem gegen Antisemitismus und die Leugnung des Holocausts protestiert wird, kamen im April dieses Jahres 10.000 Menschen – so viele wie nie zuvor.

Wie vielschichtig und widersprüchlich die Entwicklung in Ungarn ist, zeigt auch das Jüdische Sommerfestival. Gegründet hat es die Budapester Kultur- und Tourismusmanagerin Vera Vadas, 68. Das Festival präsentiert vor allem jüdische Musik – dabei ist neben traditoneller Kantoren- und Klezmermusik auch viel Platz für Experimentelles. In diesem Jahr tritt beispielsweise das Judrom-Ensemble auf, in dessen Musik sich Klezmer-Elemente mit Roma-Folklore mischen. Die meisten Konzerte finden in der Großen Synagoge an der Dohany-Straße statt. Abgerundet wird das Musikprogramm durch Ausstellungen und Lesungen.


Der Bürgermeister strich die Gelder

„Als das Festival 1998 zum ersten Mal stattfand, klang das Wort `jüdisch´ für viele ungewohnt“, erzählt Vera Vadas, „heute ist es völlig normal.“ Den Erfolg des Festivals belegen die Besucherzahlen: Letztes Jahr kamen rund 100.000 Besucher, davon etwa 40 Prozent aus dem europäischen Ausland, aus Israel und aus Nordamerika. Dieses Jahre werden es wohl noch mehr Besucher sein, der Kartenvorverkauf hat Rekordniveau erreicht.

Doch neben der Erfolgsgeschichte gibt es auch eine andere Seite. Seit 2010 amtiert in Budapest der rechtsnationalistische Bürgermeister Istvan Tarlos. Zunächst kürzte er die Unterstützung für das Festival immer weiter, in diesem Jahr stoppte er sie. Eine Begründung gab es nicht. Vera Vadas möchte nicht über die Motive spekulieren. Fest steht, dass der Budapester Bürgermeister Festivals mit national-ungarischer Ausrichtung weiterhin sponsert.

Wohl auch um einem Skandal vorzubeugen, sprangen im Frühjahr das Ministerium für Humanressourcen und das Amt des Ministerpräsidenten mit großzügigen Summen ein. Vera Vadas freut sich darüber: „Ich glaube, auf Regierungsebene ist man sich bewusst, dass Budapest eine multikulturelle Hauptstadt ist und die Juden ein wichtiger Teil Ungarn sind.“


Massenweise Hassmails

Dank des Sponsorings konnten die Festival-Organisatoren in diesem Jahr mehr Werbung schalten. Der negative Nebeneffekt: Über die Webseite des Festivals kamen massenweise antisemitische Hassmails – was Vera Vadas zuvor nie erlebt hatte. Insgesamt zieht sie jedoch eine positive Bilanz: „Vor sechzehn Jahren waren wir sozusagen Pfadfinder für die jüdische Kultur. Heute ist das jüdische Leben in Budapest aufgeblüht.“

Auch der Budapester Jazz-Musiker Andras Des tritt in diesem Jahr wieder beim Festival auf. Der 35-jährige Schlagzeuger wird zusammen mit seinem berühmten Vater, dem Komponisten und Jazz-Saxophonisten Laszlo Des, spielen, während Schriftsteller satirische Texte vortragen.

Lange Zeit war es für Andras Des ganz natürlich aus einer jüdischen Familie zu kommen. Inzwischen ist es das nicht mehr. Seine Eltern und er stehen auf rechtsextremen „Judenlisten“ im Internet, besonders seine Mutter, eine bekannte Soziologin, wird verunglimpft. „Mir selbst“, erzählt er, „klopfen immer öfter Leute freundlich auf die Schulter und sagen, sie wüssten, dass ich Jude sei, aber sie persönlich hätten kein Problem damit.“

Das Jüdische Sommerfestival bedeutet viel für Andras Des, es ist mehr als nur eine Gelegenheit, Kollegen zu treffen. Er fühlt sich als ungarischer und als europäischer Musiker, und das Festival ist ein Ort, an dem er beides ganz sein kann. „Es ist eine wunderbare Sache zu Europa zu gehören, es ist die beste Wahl, die Ungarn in seiner Geschichte getroffen hat“, sagt Andras Des. „Ich hoffe, dass unser Land und unsere Kultur sich nicht von Europa entfernen.“


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