Ein Russland, ein Geschichtsbuch
Mit seiner Geschichte tut sich Russland schwer. Wie war das noch einmal mit der Entstehung des riesigen Staates Sowjetunion? Welche Rolle spielte Stalin? Und wie ist die postsowjetische Ära zu bewerten? Fragen, die derzeit an den Schulen des Landes in 82 unterschiedlichen Geschichtsbüchern behandelt werden.
Damit soll Schluss sein, sagt Russlands Präsident Wladimir Putin und forderte bereits im Februar die Schaffung eines „einheitlichen Geschichtsbuchs“ mit „offizieller Bewertung der Vergangenheit“. Nun hat die eigens dafür geschaffene Kommission ihre Pläne für das Buch vorgelegt. Das bringt hitzige Debatten mit sich, die das Dilemma Russlands, wie es mit den dunklen Kapiteln seiner Geschichte umgehen soll, wieder einmal an die Oberfläche spülen.
Das neue Schulbuch „Von der Alten Rus bis zur Entstehung eines Neuen Russlands“ soll demonstrativ objektiv gehalten sein. Kühl werden Daten, Ereignisse, Namen vorgestellt, eine Bewertung findet nicht statt. Der Grundpfeiler, so die Kommissionsmitglieder, soll die These sein: „Wir sind Bürger eines großen Landes mit großer Vergangenheit“. Genauso hatte es Putin gefordert. Zudem soll die Orthodoxie „den Inhalt des Buches systematisch durchziehen“, „geschichtliche Persönlichkeit“ eine große Rolle spielen. So sollen die Schüler zu „Patriotismus, Landesstolz und einer normalen bürgerlichen Aktivität“ erzogen werden. Was auch immer „normal“ ist.
Aufstand gegen Putin – war da was?
Auch Fehler der Zaren, Fehler von Lenin und Stalin, von Breschnew und Jelzin sollen angesprochen werden. Aber nicht die von Putin. Bis 2012 führt das Papier der Kommission die Geschichtsschreibung. „2008 – Dmitri Medwedew wird Präsident“ steht da, „2012 – Wladimir Putin wird Präsident, Dmitri Medwedew Premierminister“. Nüchtern. Als hätte es die Straßenproteste, den Aufstand gegen die Macht-Rochade nie gegeben. Wie vieles andere, was es in Russlands offizieller Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte offiziell nicht gegeben hat.
Einige Historiker und Lehrer befürchten, dass dabei die Schattenseiten der Geschichte in den Hintergrund geraten. Zumal der Kommission, die die Vorschläge erarbeitet hat, der Parlamentsvorsitzende Sergej Naryschkin, Wissenschaftsminister Dmitri Liwanow und der umstrittene Kulturminister Wladimir Medinski vorstehen. Alle drei sind Mitglieder der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die stets in die „helle Zukunft“ schaut, aber bitte nicht in die „dunkle Vergangenheit“. Es sei denn, sie kann Helden preisen.
Lehrer befürchten „staatliche Agitation”
„Respekt vor allen Seiten unserer Geschichte“ hatte Putin gefordert, in „gepflegtem Russisch verfasst, ohne innere Widersprüche und Doppeldeutigkeit“. Doch gerade diese Widersprüche befürchten Historiker und Geschichtslehrer. Sie fühlen sich ihrer Freiheit beraubt und sehen im neuen Buch erneut ein Werkzeug der staatlichen Agitation, wie Alexej Kondraschow von der Lehrergewerkschaft sagt. In dem Buch, so glauben einige Wissenschaftler, werde wieder einmal die Idee eines starken Staates verteidigt.
Erinnerungen an die Sowjetzeit werden wach. Damals wurden die Geistes- und Sozialwissenschaften systematisch zu Propagandazwecken missbraucht. Die offizielle Ideologie bestand auf einer einheitlichen Auffassung von Geschichte, die in Helden und Feinde unterteilt war, in der der Persönlichkeitskult eine tragende Rolle spielte und die nie den kommunistischen Machtapparat in Frage stellte.
Was in dem neuen „einheitlichen Geschichtsbuch“ endgültig stehen soll, steht noch nicht fest. Bis 1. November nimmt die Kommission Änderungsvorschläge an.