Aufwind für Antisemiten
Auf die Frage, wie er sich derzeit als ungarischer Jude in Ungarn fühle, antwortet György Gabor mit feinsinnigem Humor. „Gut“, sagt er und lächelt. Und etwas ausführlicher? „Nicht gut“, antwortet er lachend. Dann bekommt sein Gesicht langsam ernste Züge.
György Gabor, 59, ist ein renommierter ungarischer Philosoph und Religionshistoriker. Vor zwei Jahren war er einer der Beschuldigten im „Philosophenprozess“, den ein so genannter „Abrechnungsbeauftragter“ der ungarischen Regierung gegen bekannte liberale, ungarisch-jüdische Intellektuelle initiiert hatte. Angeblich sollten sie staatliche Forschungsgelder veruntreut haben. Regierungstreue Medien begleiteten die Ermittlungen mit einer wüsten Hetzkampagne voller antisemitischer Untertöne.
Rufmord in Regierungsmedien
Die Vorwürfe brachen schnell in sich zusammen. Der Rufmord blieb, nirgendwo in Regierungsmedien erschienen Richtigstellungen. György Gabor kostete die Kampagne auch die Hälfte seiner Existenz. Er war 2011 monatelang arbeitsunfähig, im Dezember des Jahres kündigte ihm das Philosophische Forschungsinstitut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften – sechs Wochen vor Erreichen des altersbedingten Kündigungsschutzes. Ihm blieb nur seine Lehrstelle am Institut für die Rabbiausbildung.
„Der Philosophenprozess war ein Warnschuss für liberal gesinnte Intellektuelle. Er sollte sie das Fürchten lehren. Es gab auch einen spezifisch jüdischen Aspekt in der Kampagne gegen uns“, sagt György Gabor heute. „Antisemitismus ist Teil des öffentlichen Diskurses geworden, das ist sehr besorgniserregend und unangenehm. Ich persönlich fürchte mich als Jude nicht, aber ich habe Bekannte, die nicht mehr offen sagen, dass sie Juden sind.“
Was György Gabor sagt, ist in ähnlicher Form derzeit von vielen ungarischen Juden zu hören. Schätzungsweise 100.000 Juden leben in Ungarn, Budapest hat die größte jüdische Gemeinde in Osteuropa. Vor allem viele ältere Gemeindemitglieder fühlen sich an früher erinnert. Seit Jahren marschieren paramilitärische, SA-ähnliche Hunderschaften im Land auf, obwohl das inzwischen verboten ist. 2010 bekam die rechtsextreme Partei Jobbik (Die Besseren) bei den Wahlen 17 Prozent. Die Partei hetzt vor allem gegen Roma und Juden. Im vergangenen Jahr forderte der Jobbik-Vize Marton Gyöngyösi im Parlament, ungarische Juden in Listen zu erfassen, um zu prüfen, ob sie ein „nationales Sicherheitsrisiko“ für das Land darstellen. Regelmäßig werden jüdische Friedhöfe und Denkmäler geschändet, auch Übergriffe auf Juden sind keine Seltenheit.
In welchem Maße ungarische Rechtsextreme ihre Ideen auch in die Praxis umsetzen, zeigt die Affäre um die „Studentenlisten“: Ende Februar hatte der Fernsehsender ATV aufgedeckt, dass die von Rechtsextremen beherrschte Studentenvertretung der Budapester Eötvös-Lorand-Universität seit Jahren geheime Listen führte, in denen Studenten nach Aussehen, vermeintlicher politischer Einstellung und sexueller Orientierung beurteilt und auch nach der Kategorie jüdisch/nicht jüdisch eingestuft wurden. Aufgrund der Listen wurde unter anderem darüber entschieden, wer an Erstsemester-Ausflügen teilnehmen konnte. Die extrem rassistischen und sexistisch-pornographischen Kommentare lauteten beispielsweise: „Hässlicher Judenkopf“, „Judenmuschi“, „Liberalenschwuchtel“, potentielle Sympathisanten wurden beispielsweise so beschrieben: „Klasse Mädel mit gesunder Weltanschauung“.
„Schwarze Listen“ an der Uni
Nur die wenigsten Studenten, die auf den Listen verzeichnet sind, wollen mit Journalisten sprechen. Anna und Jozsef, die in Wirklichkeit anders heißen, tun es unter der Bedingung, dass neben ihren Namen auch ihr Studiengang und die Listen-Kommentare nicht genannt werden – sie möchten unerkannt bleiben. Über beide finden sich in den Listen abfällige, sexistische Kommentare, sie wurden als Nicht-Juden eingestuft. „Zuerst habe ich nur gelacht“, beschreibt Anna den Augenblick, als sie sich auf der Liste entdeckte. „Später wurde mir mulmig zumute, und mir ging auf, dass diese Liste eine ganz knallharte, brutale Sache ist.“ Auch Jozsef ist noch immer entsetzt. „Es wäre schön, wenn wir in einem Land leben würden, das offen ist für alle“, sagt er, „leider ist das nicht der Fall.“
Obwohl es in Ungarn eindeutige Gesetze gegen Rassenhass gibt, wurden die namentlich bekannten Urheber der Listen bisher nicht bestraft, die Ermittlungen ziehen sich quälend lange hin. Vor allem das ist es, was viele Betroffene und gerade auch viele ungarische Juden bedenklich stimmt: Die Rechtsextremen sind unter anderem auch deshalb so stark geworden, weil Behörden seit Jahren zu nachsichtig mit ihnen umgehen und der Staat sich von ihnen vorführen lässt. So wurden beispielsweise paramilitärische Verbände wie die Ungarische Garde verboten – dennoch marschieren sie unter minimal geänderten Namen immer wieder auf. Mehr noch: Die heutige Regierungsmehrheit unter dem Ministerpräsidenten Viktor Orban spielt schon seit vielen Jahren mit antiziganistischen und antisemitischen Ressentiments, denn sie kämpft um die Wählerstimmen am rechten Rand.
Kürzlich zeichnete die Regierung bekannte Antisemiten mit hohen staatlichen Verdienstorden aus, darunter den Sänger der rechtsextremen Rockgruppe „Karpatia“. Dagegen wurden in Ostungarn unlängst mehrere Roma wegen so genanntem „antiungarischen Rassismus“ zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt – sie hatten sich gegen Rechtsextreme zu Wehr gesetzt. Und Mitglieder des ungarisch-jüdischen Kulturvereins Marom könnten demnächst zu hohen Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt werden, weil sie im März gegen die Schließung der von ihnen betriebenen alternativen Kulturkneipe „Siraly“ mit einer Hausbesetzung protestiert hatten.
Das jüdische Leben blüht trotz des Antisemitismus
Auch Vera Vadas spürt das Doppelbödige im heutigen ungarischen Alltag. Die 68-Jährige ist die Leiterin des Budapester „Jüdischen Sommerfestivals“, des größten jüdischen Kulturfestivals in Mittel- und Südosteuropa, bei dem jedes Jahr im August jüdische Künstler aus aller Welt im jüdischen Viertel von Budapest auftreten. „Die Situation ist sehr widersprüchlich“, sagt Vera Vadas, „einerseits haben wir in Budapest ein blühendes jüdisches Leben, anderseits wächst die Zahl antisemitischer Zwischenfälle.“
Vera Vadas wurde am Tag nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt durch die Rote Armee geboren. Ihre Eltern waren im Dezember 1944 aus Budapest deportiert worden und hatten mehrere deutsche KZs knapp überlebt. Sie wuchs mit dem Wissen um diese Geschichte auf. Nach der Schule machte sie eine Karriere als Tourismus- und Kulturmanagerin. 1998 erfüllte sie sich einen Lebenstraum – die Gründung eines jüdischen Festivals für Budapest. Aus Ungarn weggehen wollte sie nie und will es auch jetzt nicht, denn sie fühlt sich als ungarische Jüdin. Sie ist eine kleine, zierliche und eine sehr entschlossene Frau. „Dieser wachsende antisemitische Hass kann uns nicht erschrecken, er empört uns“, sagt sie. „Was sie mit unseren Eltern gemacht haben, wird man mit uns nicht nochmal machen, wir werden uns verteidigen.“