Blind durch Belgrad
Ein buntes Grüppchen junger Menschen steht vor dem großen, grauen Gebäude mit den verhangenen Fenstern. Unkraut wächst zwischen den Gehwegplatten, der Platz drumherum ist ungepflegt. „Das ist Belgrads Museum für zeitgenössische Kunst. Es wurde in den 1960-er Jahren gebaut, doch es ist seit Jahren geschlossen“, sagt Maja Markovic. Gemeinsam mit Andja Bajic hat sie die Studentengruppe aus England hierher geführt – zu einer Stadtbesichtigung der etwas anderen Art: Nicht nur, weil das Objekt der Betrachtung in Novi Beograd liegt, einem im Sozialismus entstandenen Plattenbauviertel, in das sich sonst kaum ein Tourist verirrt. Untypisch ist vor allem, dass die eine Stadtführerin, Maja, auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Andja Bajic ist blind.
Drugi Pogled – serbisch für „Anderer Blick“ – heißt das Projekt, bei dem Menschen mit Behinderung die Stadt aus ihrer Sicht beschreiben, subjektiv, und dabei auch auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen. Die Idee von Drugi Pogled ist vor allem, ihnen eine Stimme zu geben, sie aus ihrer Isolation herauszuholen. Für ihren Einsatz bekommen sie außerdem eine kleine Aufwandsentschädigung.
Andja übernimmt die Führung: Sie ist 43 Jahre alt, eine zarte Frau, die dunklen glatten Haare fallen um das schmale Gesicht. Eine Sonnenbrille verdeckt ihre Augen. Am Arm der Übersetzerin Valentina bewegt sie sich die Straße entlang, ihr weißer Stock baumelt am Handgelenk. „Ich mag es hier“, erzählt sie. „Es ist sehr bequem zum Leben. Hier hat man alles in der Nähe.“ Und noch etwas anderes gefällt ihr sehr an Novi Beograd: die Nähe zur Natur. Es gibt keinen Verkehr, keine Autoabgase, die Stadt riecht anders. Manchmal setzt sie sich einfach ans Ufer und genießt die Ruhe: „Hier kommen mir viele Ideen, der Kopf wird frei, es ist ein Ort der Inspiration“, sagt sie.
Kein Gebäude ist älter als 60 Jahre: „Baby-Stadt“ sagt Maja dazu
Die Touristen erfahren, wie Brigaden nach dem Zweiten Weltkrieg freiwillig den ganzen Stadtteil Novi Beograd aufbauten. Wie die alteingesessenen Belgrader abfällig die Nase über die neu entstandene „Schlafstadt“ rümpften, und wie sie diesen Stadtteil mittlerweile lieben. „Baby-Stadt“ nennt die Stadtführerin Maja ihn: Kein Gebäude ist hier älter als 60 Jahre, aber manche der Einwohner.
Die Gruppe ist am Ende der Führung angelangt, an der Promenade des Flusses Sava, gesäumt von Bäumen und Wiese. Andja lächelt. Sie ist zufrieden, alles ist gut gelaufen.
Wo Andja wohnt, ist es nicht so grün wie in Novi Beograd, auch nicht so bequem zum Leben. Zumindest nicht für sie. Sie nimmt den Bus Richtung Banjica, im Süden von Belgrad. Auf jedem ihrer Wege in Belgrad fehlen ihr die einfachsten Dinge: Markierungen auf Gehwegen, die Ansagen im Bus, Ampeln mit Signal.
„Es ist sein Problem, nicht meins“
Möchte Andja eine Straße überqueren oder wissen, an welcher Haltestelle sie aussteigen muss, dann fragt sie andere Passanten. Die seien meist hilfsbereit, aber sie wüssten oft einfach nicht, wie sie helfen sollten. „Meine Blindheit ist nicht das Problem, das Problem sind die anderen Menschen“, erzählt sie. Ihnen fehle ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Die Busse verfügen mittlerweile eigentlich über die Technik, um Haltestellen anzusagen. Aber sie sei oft einfach ausgeschaltet. Warum? „Keine Ahnung, vielleicht nervt das den Fahrer.“ Der Staat, so ist ihr Eindruck, tue ein bisschen was, aber das sei viel zu wenig. „Sie haben wahrscheinlich zu wenig Geld.“
Der Bus fährt durch den dichten Verkehr im Zentrum. Die Innenstadt, ja, die sei schön, sagt Andja und lächelt. Hier gibt es Bordsteine, an die sie sich halten kann. Und die Gebäude bilden eine geschlossene Front, an der sie sich entlang bewegt. Aber zum Leben? Andja schüttelt den Kopf. Zu schlechte Luft, zu viele Autos. Nach 30 Minuten steigt Andja an ihrer Haltestelle aus. Auch hier dominieren die Plattenbaublocks, aber es ist ruhig. Trotzdem kein leichtes Terrain. „Ich weiß einen einzigen Weg, wie ich vom Bus nach Hause komme, und nur diesen Weg nehme ich“, erzählt sie. Schnell wird klar, warum. Ihre Wohnblockeinheit ist so seltsam gebaut, dass es für Andja fast unmöglich ist, sich alleine zurechtzufinden: Treppenaufgänge teilen den Weg in zwei Ebenen, jeder Block hat mehrere Eingänge und ist exakt gleich aufgebaut. Zwischen den Gebäuden ist viel freie Fläche, dort parken die Autos. Nichts, woran sich Andja orientieren könnte.
Im Block Nr. 71 lebt Andja mit ihrer Mutter, dem Bruder und ihrem 16 Monate alten Sohn Zoran. Ihre Mutter kocht Kaffee, Zoran spielt auf dem Boden vor dem Sofa. Zorans Vater hat sich von Andja getrennt, weil seine Eltern mit Andja nicht einverstanden waren. Sie oder wir, hatten sie ihren Sohn vor die Wahl gestellt. Mittlerweile ist Andja nicht mehr wütend. „Es ist sein Problem, nicht meins“, sagt sie und lächelt. Es spricht eine ungeheure Stärke aus diesen Worten. Der Mut und das Selbstbewusstsein einer Frau, die von klein auf gelernt hat, sich Herausforderungen zu stellen.
Die Mutter diktierte, Andja übertrug die Texte in Brailleschrift
Mit den Führungen bei Drugi Pogled hat Andja vor drei Jahren begonnen. Ihre Mutter hatte ihr zugeraten. „Mach das, natürlich!“ Wie ihre Mutter sie immer unterstützt hat. Bereits im Studium, als sie an der Belgrader Universität Englisch lernte. Da diktierte die Mutter ihr Nächte lang Literatur, die Andja dann in Brailleschrift auf ihrer speziellen Schreibmaschine transkribierte, damit sie mit den Büchern arbeiten konnte. Graham Greene, „Der Dritte Mann“, Text- und Aufgabenbücher. Die Familie, sagt Andja, ist das Wichtigste für einen Menschen mit Behinderung. Wenn sie dich akzeptieren und ermutigen, dann wirst du ein selbstbewusster Mensch.
Heute unterrichtet Andja als Englischlehrerin an einer Blindenschule. Das war ihr Traum. Und sie mag es, rauszugehen, Menschen zu treffen, zu reisen. Sie war schon einmal in Schweden, auch einmal in der Schweiz. Dorthin war sie gefahren, um Blindenhunde nach Serbien zu bringen. Der Blindenverein, in dem sie vor Zorans Geburt noch sehr aktiv war, hatte das Projekt fördern wollen. Doch hätte der Staat dafür ein Gesetz schaffen müssen, das Blinden den freien Zutritt mit Blindenhund an öffentlichen Orten garantiert. Doch das ist nicht passiert.
Von der Politik erwartet sie nichts
Viel Hoffnung, dass sich daran etwas ändern wird, hat Andja nicht – auch nicht durch die eventuelle Perspektive auf einen EU-Beitritt. Die ewige Hin und Her der sich hinziehenden und an Bedingungen geknüpften Verhandlungen über den Beginn der Beitrittsgespräche – das spiele ohnehin kaum eine Rolle für sie. Politik ist nicht ihr Metier. Aber die Konsequenzen der wechselhaften politischen Situation sind auch für sie spürbar. „Es gibt noch vieles, was in Serbien fehlt“, sagt Andja.
Neben den Alltagshürden ist auch die geringe finanzielle Unterstützung für Menschen mit Behinderung ein Problem. 24.000 Dinar bekommt jeder vollständig blinde Mensch im Monat – das sind rund 215 Euro. Davon zu leben ist unmöglich. Genauso unmöglich ist es aber mittlerweile für Blinde, eine Arbeit zu finden. Während des Sozialismus hatten Menschen mit Behinderungen garantierte Arbeitsplätze. Nicht nur die sind weggefallen, auch wurden in den letzten Krisenjahren viele Stellen als Telefonisten oder Physiotherapeuten gestrichen. Und so leben viele Blinde weiterhin bei der Familie, ein selbstständiges Leben ist unter diesen Umständen unmöglich.
„Wieder so eine Halbherzigkeit“
„Die wirtschaftliche Situation in Serbien ist gerade für alle schwierig, nicht nur für Blinde. Aber für sie ist es besonders schwer“, erzählt Andja. Die Preise steigen, die Gehälter jedoch nicht. Der Lebensstandard sinkt. Früher hat sich Andja öfter ein Taxi genommen, das kann sie sich heute nicht mehr leisten. „Aber man muss froh sein, wenn man überhaupt Arbeit hat.“
Bis Juli ist Andja noch im Mutterschutz, dann muss sie wieder zurück an ihre Arbeitsstelle. Die Blindenschule im Ortsteil Zemun – ursprünglich ein eigenes Dorf an der Donau – hat sie selbst als Kind besucht. Es ist ein Internat, in dem blinde Kinder aus ganz Serbien während der Woche wohnen können. Mittlerweile versuche der Staat auch, blinde Kinder in die Regelschulen zu integrieren, erzählt Andja. Das sei gut. Viele ihrer Schüler würden gerne mit „normalen“ Kindern in eine Klasse gehen. „Aber man muss sie im Regelsystem auch auffangen: Sie brauchen spezielle Hilfen, die Lehrer müssen dafür ausgebildet sein.“ Das sei derzeit nicht der Fall. „Wieder so eine Halbherzigkeit“, ärgert sich Andja.
„Ein Bär, ein Apfel. Siehst du, Zori?“
Ein paar Wochen kann sie noch ihre freie Zeit mit ihrem Sohn genießen. Zoran nimmt ein Bilderbuch und blättert darin. „Das ist ein Bär, das ist ein Apfel“, erklärt die Oma. Andja sitzt daneben, sie wiederholt: „Ein Bär, ein Apfel. Siehst du, Zori?“
Der Junge ist ihr großes Glück. Sie spart Geld, damit er später einmal reisen kann. Ohne ihre Mutter würde sie es nicht schaffen. Bereits den Kleinen allein von der Kindertagesstätte abzuholen, ist für Andja ein Ding der Unmöglichkeit, obwohl diese nur wenige hundert Meter entfernt ist. Dazwischen liegen Straßen, Plätze, rücksichtslose Autofahrer und Ampeln, die keinen Laut von sich geben.