Russland

Der Mensch lebt nicht allein vom Singen und Tanzen

Das Schicksal jedes Russlanddeutschen ist einzigartig, und die meisten Biographien sind tragisch. Auch Irina Weber hat so eine tragische Biographie. Ihr Vater, Friedrich Weber, arbeitete als Lehrer in einer kleinen Stadt bei Saratow, der Hauptstadt der Wolgadeutschen. 1941 wurde er nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht, wie Zehntausende andere auch, samt Familie von den Sowjets hinter den Ural deportiert. Dort kam er sofort ins Gefängnis. Zehn Jahre lang Haft. Der Vorwurf: Spionage. Seine russische Frau und seine zwei Kinder hatten es schwer. Der Vater „verschwand“ in Kasachstan, keiner wusste genau, wo er war. Erst 1964 hat Irina ihn wiedergesehen. Da war sie 20 Jahre alt. Die Familie zerbrach, heute lebt der schon alte Mann mit seiner neuen Familie in Deutschland, manchmal ruft er bei Irina an und fragt, wie es ihr geht. Dann sprechen sie russisch. Ihre Muttersprache hat Irina verlernt. Sie besucht jetzt zweimal in der Woche einen Sprachkurs und beginnt wieder ganz von vorn, Schuldeutsch, wie in der ersten Klasse. Gemeinsam mit zwölf anderen „Schülern“ zwischen 40 und 69, gemeinsam mit Ludmilla Meier, Robert Kessler und Anatolij Schraplau drückt die Rentnerin jetzt die Schulbank, einfach so, weil es ihr Spaß macht über Deutschland zu sprechen und über ihre eigene Vergangenheit. Die Deutschen haben einen Fernseher, ein paar Unterrichtsbücher, einen Videorecorder und ein bisschen Geld für einen Deutschlehrer geschickt. Untereinander plaudern sie auf russisch, das geht einfacher. Irina war noch nie in Deutschland und weg will sie auch nicht. Sie weiß, dass dort niemand auf sie, auf „die Russen“ wartet.
Der Süden Russlands war das Zentrum der deutschen Einwanderer, nicht zufällig siedelten sie am Schwarzen Meer und an der Wolga. Schon 1763 kamen nach einem Erlass von Katerina II. die ersten Ausländer nach Russland, Deutsche waren besonders willkommen. Deutschland war damals in Hunderte Staaten zersplittert, Boden für die Landwirtschaft war knapp. Man versprach ihnen große Vergünstigungen. Oft kamen einfache, arme Leute, die in Russland ein neues Leben beginnen wollten. Die Zugereisten bekamen ein Stück Erde zur Bewirtschaftung und die Steppen des Südens sind unendlich weit, die fette schwarze Erde die fruchtbarste der Welt. Dafür mussten die Deutschen die Grenzen des Landes vor Überfällen schützen. Die Zahl der Russlanddeutschen wuchs im 20. Jahrhundert auf geschätzte zwei Millionen an. Vielleicht waren es samt Familien auch mehr. Zu sowjetischen Zeiten galten sie als mit den Nazis verwandte Volksfeinde und litten, wie die meisten ethnischen Minderheiten, unter Verfolgung und Gleichmacherei. Bis 1989 hatten die Russlanddeutschen nicht einmal das Recht, ihre Muttersprache zu sprechen. Deportationen, Haft und Umsiedlungen haben Familien zerrissen und die Verbindungen zur eigenen Kultur. Seit der Perestroika hat sich die Situation verändert. Nur die zerstörten Strukturen lassen sich im riesigen russischen Land nicht wiederherstellen. Tausende Kilometer liegen zwischen denen, die auch heute noch in Sibirien leben, in Moskau oder eben im Süden Russlands. Die meisten suchten samt Familie den Weg nach Deutschland. Hunderttausende sind ihn längst gegangen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Im Süden Russlands, genauer im Rostower Gebiet, leben jetzt noch etwa 7000 Russlanddeutsche, so schätzt Irina Weber, die die Vorsitzende des Vereins „Wiedergeburt“ in Rostow-am-Don ist. Jeden Tag kommt sie in das kleine Kellerbüro in einem schmuddligen Viertel der Stadt, um Veranstaltungen zu organisieren, für die Alten oder auch für die Kinder. In fast jeder Kleinstadt haben sie ein Zentrum, wo sie sich treffen. In Taganrog, Belaja Kalitwa und Asow und eben auch in Rostow. Insgesamt ist der Verein in 100 russischen Städten aktiv. Finanziert wird er vom deutschen Innenministerium. Offiziell ist sein Hauptziel die „Wiedergeburt“ der deutschen Kultur, der Traditionen und der Sprache. Die Mitglieder feiern traditionelle deutsche Feste wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten und sie lernen am Abend Deutsch in einer Art Volkshochschule und singen am Ende der Stunde „Sag mir, wo die Blumen sind“. Den sogenannten Spätaussiedlern, also denen, die in den Achtzigern, zu Sowjetzeiten noch nicht weg durften oder wollten, hilft die Organisation, alle nötigen Papiere für die Ausreise zu besorgen, den Bürokratendschungel zu durchkämmen.
Für die Aussiedler ist der Neuanfang oft mit großen Schwierigkeiten verbunden gewesen. Um so später sie gingen, um so schwieriger wurde es - das weiß hier jeder. Dennoch, die meisten wollen weg. Denn “nur mit Singen und Tanzen hält man die Menschen hier nicht“, meint Irina Weber. Etwa 30 Russlanddeutsche reisen jedes Jahr aus dem Süden Russlands, dem Rostower Gebiet, in Richtung Deutschland. Dorthin, wo alles besser sein muss.


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