Bulgarien

Die Wutbürger von Sofia

Trillerpfeifen, Tröten und Vuvuzelas hallen zwischen den Repräsentationsbauten am Unabhängigkeitsplatz in Sofia. Vor dem Ministerrat fordern Sprechchöre „Ostavka, Ostavka!“, „Rücktritt!, Rücktritt!“, oder rufen „Mafia, Mafia!“. Vor dem benachbarten Staatspräsidium wird der bulgarische Reigentanz „Horo“ getanzt.

„Die Bürgermeisterin soll vor dem Regierungssitz Sand ausschütten, denn in diesem Sommer werden wir unseren Strandurlaub hier verbringen“, hat eine junge Frau auf ihr Transparent geschrieben. So friedlich und bunt der Widerstand gegen die Regierung von Ministerpräsident Plamen Orescharski erscheint, so hartnäckig ist er: Seit Wochen gehen die Bulgaren zu Zehntausenden auf die Straße, jeden Abend wieder. Weder Hitze noch Wolkenbrüche können die Proteste zerstreuen.


Der Volkszorn ist nicht mehr zu beschwichtigen

Schon seit Februar befindet sich Bulgarien im politischen Ausnahmezustand. Damals gingen die Bulgaren gegen hohe Strompreise auf die Straße und bewegten die rechtsgerichtete Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissov zum Rücktritt. Doch die folgenden Neuwahlen am 12. Mai ergaben keine klare Mehrheit: 120 Stimmen von Borissovs Partei GERB und der nationalistischen Ataka standen 120 Stimmen der sozialistischen BSP und der Partei der türkischen Minderheit DPS gegenüber. Dennoch wagte es der parteilose und angesehene Finanzfachmann Plamen Orescharski Ende Mai, eine BSP-DPS-Minderheitenkoalition zu bilden.

Nur zwei Wochen nach seinem Amtsantritt aber löste Orescharski mit einer verhängnisvollen Personalentscheidung die Proteste aus, die nun die Zukunft seines Kabinetts in Frage stellen: Er wollte den zwielichtigen Medienmogul Deljan Peevski zum Chef der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS), des wichtigsten bulgarischen Geheimdienstes, machen. Zwar verzichtete Peevski nach erneuten Demonstrationen auf den Posten. Doch der Volkszorn ist seitdem nicht mehr zu beschwichtigen.


Personifizierung der Cliquenwirtschaft

Der massige Zweimetermann gilt als Personifizierung korrupter Cliquenwirtschaft. Bereits mit 20 Jahren wurde Peevski ohne abgeschlossene Ausbildung parlamentarischer Staatssekretär im Transportministerium, drei Jahre später war er stellvertretender Minister für Katastrophenfälle. Derzeit sitzt er für die DPS im Parlament und führt gemeinsam mit seiner Mutter Irena Krasteva den größten bulgarischen Medienkonzern „Nova Bulgarska Mediina Grupa“ (NBMG), den die beiden seit 2007 aufgebaut haben. Die Tageszeitungen, Online-Medien und Fernsehsender des Konzerns betreiben skrupellosen Kampagnenjournalismus. Die mächtige Korporative Handelsbank finanziert den Konzern mit Krediten, im Gegenzug bereitet er mit seinen Berichten der Bank das journalistische Terrain für ihre Expansionsbestrebungen.

Eigentlich hatte der neue Ministerpräsident Orescharski nach seiner Wahl einen Neuanfang versprochen. Doch dass sein Kabinett ausgerechnet den Karrieristen und Medienoligarchen Peevski zum neuen Geheimdienstchef machen wollte, ist für viele Bulgaren ein Beweis dafür, dass die Beteuerungen, nach Borissovs autoritärer Regierungsführung eine demonkratischere Politik betreiben zu wollen, leere Versprechungen waren. Orescharski hat sich inzwischen für die Nominierung Peevskis entschuldigt. Zurücktreten will er aber nicht.

Einer der rund zehntausend Demonstranten, die am Montagabend vom Ministerrat über den Boulevard Zar Osvoboditel zum Parlament marschieren, ist Janko Staikov. Fragt man ihn, wogegen er protestiert, kommt die Antwort kurz und trocken: „Gegen den Kommunismus.“ Der habe seiner Familie die Immobilien weggenommen und ihm das Studium verwehrt. So wie er bereits Anfang der 1990-er Jahre gegen das wackelnde Regime der Bulgarischen Kommunistischem Partei (BKP) demonstrierte, will er nun den Sturz der Regierung von deren Nachfolgeorganisation BSP. Ob aber Orescharski tatsächlich zurücktreten wird? „Er muss“, antwortet Staikov erneut spontan und nüchtern.


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