Belarus

Das Belarus in uns allen

Wetten, dass jeder Belarusse im Ausland mindestens schon einmal mit der Unkenntnis über sein Land konfrontiert wurde? Und zwar entweder mit totaler Unkenntnis, selbst über die geografische Lage, oder mit einer floskelhaften (Un-) Kenntnis über die „letzte Diktatur Europas“.

Auch im Inland ein weißer Fleck

Das wundert mich nicht. Denn im Inland ist das Land „Belarus“ auf eine gewisse Art ebenso ein weißer Fleck: Die meisten Leute interessieren sich wenig für dieses Land als Ganzes. Sie sind eher mit ihren eigenen, unmittelbaren Bedürfnissen beschäftigt. Die belarussischen Intellektuellen dagegen, meist national ausgerichtet, machen sich viele Gedanken darüber, was das Wesen von Belarus ausmachen könnte. Doch ihr Phantasieland, ein belarussischer Nationalstaat mit belarussischer Sprache und großartiger Vergangenheit, existiert nicht.

Es ist aber nun mal so in der modernen Welt, dass das Herkunftsland eine nicht unwesentliche Rolle in unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung spielt. Aber was, wenn ein solches Land also abwesend ist?

Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Philosoph und Schriftsteller Valentin Akudowitsch in seinem Buch „Der Abwesenheitscode“, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein, wie es im Untertitel heißt, „Versuch, Weißrussland zu verstehen“.

Zwei parallele Welten

Seit die Belarussen 1991 ihren ersten Staat bekamen, suchten sie nach Wegen, sich in diesem, ihrem Staat zurechtzufinden. Eine der populärsten Ideen war damals die der nationalen Wiedergeburt. Unter ihren Anhängern war auch Valentin Akudowitsch. In „Der Abwesenheitscode“ führt der belarussische Schriftsteller und Philosoph nun eine existenzielle, persönliche Revision durch: der Idee der Nation und der nationalen Wiedergeburt, der Vergangenheit und der Gegenwart des kulturellen Raumes, den wir heute als Belarus kennen.

1991 noch wollte man einen belarussischen Staat nach dem Vorbild anderer Nationalstaaten. Doch unter „man“ sind vor allem die Intellektuellen zu verstehen. Denn das „Volk“ strebte damals wie heute eher danach, das gesicherte Leben wieder zu erlangen, das es aus Sowjetzeiten kannte.

So sind zwei parallele Welten entstanden: die national bewussten Intellektuellen, die heute noch, allerdings mit immer stärkerem Beigeschmack der Verzweiflung, von der nationalen Wiedergeburt träumen und dem „Volk“ Borniertheit vorwerfen. Und das „Volk“, das bei den Wahlen immer wieder für die „Sicherheit“ abstimmt und die Wendung „bewusste Belarussen“ meist nur aus dem Fernsehen kennt – als Schimpfwort für die Oppositionellen.

Umbrüche und Neuanfänge

Auf den ersten Blick scheint Akudowitschs Buch durchdrungen von Pessimismus und Enttäuschung gegenüber den eigenen Ideen und der unspektakulären Lage der Intellektuellen in Belarus. Die im Titel erwähnte Abwesenheit bezieht sich auf alles: Abwesend ist eine kontinuierliche Geschichte des Raumes Belarus, abwesend ist jeglicher Einfluss der belarussischen Intellektuellen auf den Rest der Gesellschaft, abwesend ist das Potenzial der Idee eines Nationalstaates.

Es sind die Umbrüche und Neuanfänge, die den Raum Belarus kennzeichnen: Das Fürstentum Polazk, das Großfürstentum Litauen, die Rzeczpospolita, das Russische Reich, die Belarussische Volksrepublik, die Belarussische Sowjetrepublik, das unabhängige Belarus – diese unterschiedlichen staatlichen Formationen wechselten einander auf diesem Territorium ab. Jeder von diesen neuen Staaten bedeutete eine andere Religion, eine andere Sprache, eine andere Identität als zuvor.

Noch dazu betrafen die jeweils neuen Richtlinien vor allem die oberen Schichten der Gesellschaft und Intellektuelle, wenig aber die Bewohner der kleinen Städte und Dörfer. In denen bildete sich die belarussische Nation eher abseits der genannten staatlichen Gebilde heraus, vielmehr in den Umbruchperioden dazwischen.

Die permanenten Brüche in der Geschichte führten dazu, dass soziale Werte für die Leute viel wichtiger wurden als die symbolischen, wie etwa die Nation. Indem Valentin Akudowitsch die ganzen verwickelten Konstellationen der belarussischen Geschichte darlegt, wird deutlich, dass die aktuelle Abwesenheit des Potenzials eines Nationalstaates nicht so sehr dem Unwillen des Volkes oder des Regimes zuzuschreiben ist, wie es öfter von den Anhängern der nationalen Wiedergeburt behauptet wird. Sie resultiert vielmehr aus der Geschichte. Diese Abwesenheit aber, indem sie von dem Autor gefühlt und dadurch gefüllt wird, entlarvt sich als Vielfalt: Belarus ist ein Land, in dem Nationen, Sprachen, Religionen und Ideen zusammenkommen.

Es ist auch ein Buch über mich

„Dies ist kein Buch über Weißrussland. Es ist ein Buch über mich“, schreibt Akudowitsch. Er möchte Belarus nicht für andere auslegen, sondern seinen eigenen Ort in der Welt und somit sich selbst (er)finden. Dass er offen, aufrichtig und persönlich bleibt, schützt ihn davor, in Klischees, in einfältige Kritik, sei es am Regime oder an der Opposition, zu verfallen.

Es ist auch ein Buch über mich. Und nicht nur, weil es einer der seltenen Texte über Belarus ist, mit dem ich mich als Belarussin identifizieren kann. Ich wage zu behaupten, dass das Buch auch jedem westlichen Leser einen Spiegel vorhält, egal, aus welchem Land er kommt. Denn am Beispiel Belarus und Akudowitsch wird gezeigt, wie Verbindungen zwischen dem Menschen und seinem kulturellen Lebensraum entstehen und funktionieren, wie Menschen und ihre abstrakten Ideen aufeinander einwirken, was es bedeutet, den Zwang und die Chancen der Vielfalt wahrzunehmen.

Akudowitsch legt nahe, dass das Konzept einer Nation als Zivilgesellschaft von Staatsbürgern unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft nicht nur viel produktiver, sondern beinahe das einzige realistische für Belarus ist. Nicht nur wegen der geschichtlichen Entwicklungen, sondern auch wegen der globalen Herausforderungen unserer Epoche.

„Das Weißrussland von heute ist das Frankreich von morgen“

In der heutigen Welt, in der es immer unmöglicher wird, der Vielfalt zu entfliehen, ist der Mensch gezwungen, sich und seinen Ort in der Welt selbst zu konstruieren: „Das Weißrussland von heute ist das Frankreich von morgen“, schreibt Akudowitsch.

Belarus, so legt Akudowitsch es nahe, könnte ein Wegweiser sein: Gerade in diesem von Brüchen gekennzeichneten Raum könnte nach den Wegen für kollektive und somit individuelle Identität(en) gesucht werden, die jenseits einer einheitlichen Nationalkultur verlaufen – und vielmehr ein Zusammenleben und -wirken von mehreren Kulturen und Subkulturen ins Auge fassen.

Das ist aber nur möglich, wenn belarussische Intellektuelle die eigene Situation mit offenen Augen sehen. Und wenn sie sich nicht an ihren veralteten Visionen festklammern, vor allem an der eines „klassischen“ ethnokulturellen Nationalstaates.

Ich hoffe, dass deutsche Leser aus dem Buch mehr herauslesen können als die belarussischen. Weil sie nicht unter dem typischen Trauma der belarussischen Intellektuellen leiden: dem Streben nach der idyllischen Einheit nämlich. Viele Belarussen reagieren immer noch aggressiv auf diesen Text, der ihre Phantasien zerstört und ihnen die Augen für die Vielfalt der Realität öffnet.


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