Russland

Die quirlige Metropole am stillen Don

Die Bewohner der südlichsten Millionenstadt Russlands fühlen sich als Europäer. So drücken viele hier, 1000 Kilometer südlich von Moskau, ein Lebensgefühl aus, das durch Vorbilder und Vorlieben aus dem Westen geprägt ist. Und sie sagen, „richtige Russen“ gäbe es hier kaum, denn jeder hat armenische, georgische, kalmykische oder jüdische Vorfahren. Angeblich leben in Rostow-am-Don – wer weiß das schon genau zu sagen – rund 200 Nationalitäten. Europäer und Asiaten, Russen und Kaukasier leben hier zusammen, als sei es nie anderes gewesen. Usbeken, Tschetschenen, Kasachen, Aserbeidschaner – verschiedene Sprachen und Traditionen prägen das Bild der Stadt, das Angebot auf den Märkten und in den Restaurants. Asien ist in Sichtweite. Denn der Don trennt zwei Kontinente: Rostow liegt am rechten Ufer des Flusses, Asien beginnt am linken.

Jeder muss hier durchreisen, der auf dem Weg in den Kaukasus ist und umgekehrt, wer von dort nach Russland oder Westeuropa will, um zu handeln, auf dem Weg in den Skiurlaub am Elbrus oder an die tropischen Strände Sotchis. Seit 1871 ist Rostow per Eisenbahn zu erreichen, der Binnenhafen am Donufer hat auch heute noch eine große wirtschaftliche Bedeutung, denn bis zum Asovschen Meer sind es nur 50 Kilometer. Und seitdem der 1952 von Stalins Häftlingen und deutschen Kriegsgefangenen erbaute Wolga-Don-Kanal eröffnet wurde, gibt es auch eine Schiffsverbindung bis in die Hauptstadt. So kam die Stadt zu ihrem Pseudonym: „Das Tor zum Kaukasus“, ein Verkehrskontenpunkt also. Von Europa in den Kaukasus und zurück, bis nach Zentralasien und Persien führen die Wege.

Auch heute noch sind die Besucher, die hier her kommen, vor allem Händler und Geschäftsleute. Touristen kommen selten, Petersburg und Moskau sind weit entfernte Magneten für Kulturinteressierte aus aller Welt. Nach Rostow kommen die Abenteurer, die das Land per Schiff bereisen und hier für einige Tage einen Zwischenstopp machen. Angekommen am Flussbahnhof, ist die erhöht liegende Innenstadt leicht zu erreichen und recht überschaubar. Eine Uferpromenade führt zu den großen goldenen Kuppel der Muttergottes-Geburts-Kathedrale, die als einzige Kirche von vielen in der Innenstadt die Zerstörungswut Stalins überlebt hat. Geschäftiges Treiben auf dem Zentralmarkt rings um das Wahrzeichen der Stadt macht die Suche nach dem Eingangsportal etwas mühsam, gibt aber zugleich einen ersten Eindruck von der Vielvölkerstadt. Südfrüchte, scharfe Saucen, bunte Teppiche und das Sprachengewirr beweisen, dass der Kaukasus nicht weit ist. Die ursprünglich selbständige Stadt Nachitschewan ist heute ein Stadtbezirk des gewachsenen Rostow, es wurde mit der Protektion von von Ekatarina II. einst flüchtigen Armeniern überlassen. Auch dort kann man sich heute noch von den mittelasiatischen Kochkünsten überzeugen. Auf dem Weg dort hin machen großzügige Parks die Wunden, die die deutsche Wehrmacht hinterließ, fast vergessen und geben der Stadt den Anstrich einer grünen Oase. Für den Besucher sind die Narben jedoch nicht zu übersehen. Auf den einst prächtigen Gründerzeit-Boulevards finden sich vor allem Momentaufnahmen von eben jenem kulturellen und geschichtlichen Durcheinander, das die Stadt prägt: Kämpfe und Kriege, Epochen des Reichtums und großer Not, Gotteshäuser verschiedener Religionen, protzige Fassaden und wacklige Holzhäuser, bürgerliche Repräsentation und sozialistische Funktionalität.
Erst 250 Jahre jung kam Rostow vor allem im 19. Jahrhundert als Umschlagplatz von Getreide, Holz, Kohle und Tabak zu Reichtum. Große Handels- und Geschäftshäuser prägen noch immer die großen Boulevards im Zentrum. Das 20. Jahrhundert brachte die Industrialisierung, Land- und Schwermaschinenbau, Schiffswerften – Maksim Gorkij verdiente hier im Stadtasyl als Hafenarbeiter sein Geld. 150 Industriebetriebe und Rüstungsfabriken in und um Rostow brachten neben Wohlstand auch die ökologische Katastrophe. Der Don und mit ihm das Asovsche Meer sind bisweilen dunkelbraun getrübt und von einem Ölteppich überzogen.
Widersprüche und Krisen, der nicht weit entfernte Krieg im Kaukasus – davon ist für Durchreisende und Kurzbesucher nichts zu spüren. Wenngleich Rostow der größte südliche Militärstützpunkt im Süden Russlands ist. Die Soldaten leben hinter großen Mauern, der Kurzbesucher wird sie kaum treffen. Tausende Flüchtlinge, die sich in der Stadt legal oder illegal aufhalten, sind im bunten Treiben kaum auszumachen. Hin und wieder betteln Alte, Frauen und Kinder mit holprigem russischen Akzent um ein paar Rubel.

Für den, der etwas Zeit mitbringt, erschließt sich insbesondere bei einem Ausflug in das Rostower Umland die krisenreiche Geschichte der Region. Flußaufwärts beginnt die Zeitreise. Die literarische Würdigung der Schönheit des großen Flusses im Süden und seiner erlebten Geschichten in dem vierbändigen Roman „Der stille Don“ brachten dem Autor Michael Scholochov 1965 den Nobelpreis und dem großen Fluss internationale Berühmtheit.
Schon im 13. Jahrhundert zog er Deserteure, Leibeigene und hungernde Bauern an, die auf der Flucht vor Repressalien durch Iwan den Schrecklichen das Weite suchten und in den riesigen, fruchtbaren Steppen an seinen Ufern fanden. Die Bewohner der „wilden Felder“ nannten sich Kosaken und fernab der Zentralgewalt gründeten sie 200 Jahre später auf der malerisch gelegenen Doninsel ihre eigene Hauptstadt Starotscherkassk. Heute ist das einstige Zentrum der einst mit und mal gegen die Zentralgewalt kämpfenden Reiterkrieger ein verlassenes Dorf. Doch statt Aufstände zu planen, sind die Gemüsebauern hier heute mit dem Überleben beschäftigt. An die legendären Atamane, die Anführer der renitenten Donkosaken Razin und Platov oder des erklärten Zarenkonkurrenten Pugatschjov, erinnert heute noch ein detailverliebtes Museum, gegründet ebenso vom Kosakenliebhaber Scholochov, untergebracht in einer einstigen Kosakenfestung. Mit etwas Glück geben dort die Dorffrauen ein Gratiskonzert. Die Kosakinen proben ihr Repertoire im Museum und freuen sich über unerwartetes Publikum. Gegenüber des kleinen Palastes steht die ebenso sehenswerte Kirche „Liebe Frau vom Dom“ aus dem 18. Jahrhundert. Die Zwiebeltürme der Kirchen geben der einstigen Kosakenhauptsadt noch heute ihr Gesicht, insbesondere die älteste am Don überhaupt, die 1719 erbaute Auferstehungskathedrale. Am Ende der aus kleinen Holzhäusern bestehenden Hauptstrasse gelegen, beeindruckt sie im Inneren die seltenen Besucher mit einer aus Holz geschnitzten Wand, geschmückt mit 150 Ikonen. Die reiche Ausstattung erzählt in märchenhaftem Ton von der einstigen Bedeutung ihrer Erbauer.
Die Donkosaken zogen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wegen Platzmangels weiter, um eine neue Hauptstadt – Novotscherkassk - zu gründen. Hier erinnert nicht nur eine große Bronzestatue an den legendären Krieger Ermak – errichtet vor einer imposanten Kathedrale - an die rebellische Vergangenheit der Donkosaken. Jungen Kadetten in Uniform und neu gewählten Atamanen kann man hier leibhaftig auf der Straße begegnen. Gesang- und Tanzschulen, die kosakische Traditionen vermitteln, haben Hochkonjunktur. Die Wiedergeburt des Kosakentums ist unübersehbar, organisiert in neu gegründeten Verbänden treten seine Vertreter auch auf politischer Ebene dafür ein, nicht mehr nur folkloristisches Aushängeschild zu sein. Der Kreml ist weit entfernt, die Wurzeln des Kosakentums liegen vor der Haustür.

Ein weiterer Ausflug von Rostow aus führt nach nur einer Stunde Autofahrt durch die flache Steppe nach Taganrog, der Heimatstadt Anton Tschechows. Nur mit Mühe lässt sich noch jene Kleinstadtidylle finden, die einst den Dramatiker inspirierte. Das noch mit originalem Inventar eingerichtete Lebensmittelgeschäft seiner Eltern ist heute noch erhalten und zu besichtigen. Es bietet ebenso wie das in einem gepflegten Garten gelegene spätere Wohnhaus Tschechows einen Blick zurück in das ländliche Russland des 19. Jahrhunderts. Außerhalb dieses eingezäunten Museums prägen lieblose Plattenbauten und wuselige Märkte das Kleinstadtbild. Das Leben hat sich für die meisten wohl kaum verändert. Sie sind arm und mit dem Satt-Werden beschäftigt.

Zurück in Rostow beginnt nun die Don-Metropole erst richtig an zu strahlen. Die Provinz ist fernab. Hier ist Großstadt: Cafes, Kinos, Clubs, Theater und die Geschäfte in den Hauptstraßen sind für den um so eindrucksvoller, der auch den stillen Don besucht hat, um seinen Geschichten zuzuhören. Jeder zehnte hier ist Student. Universitäten, Hoch- und Fachschulen sind in den repräsentativsten Gebäuden der Stadt untergebracht. Die Jungen wollen nach vorne schauen, die Vergangenheit ist kompliziert und mit vielen Rückschlägen und Enttäuschungen verbunden. Museen, Folklore, wehmütige Gesänge – das ist nicht in Mode. Die Sorge um die eigene Zukunft und der Kampf um eigene Perspektiven im Raubtierkapitalismus machen aus den Nachwuchsakademikern furiose Energiebündel. Studium, Job und Freizeit prägen den Alltag, für den Blick zurück bleibt da kaum Zeit. Armenischer Pop, Salsa oder russische Discoklänge sind In. Europa, der Westen, eigene Erfolge sind das Ziel.




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