Leben nach dem Kinderheim
Es herrscht sommerliches Wetter am Rande der rumänischen Hauptstadt, die Sonne strahlt kräftig und der rasende Straßenverkehr lässt den Staub in die Luft fliegen. Vor einem Haus hält ein Lieferwagen, ein junger Mann mit kräftigen Armen und lila Trainingsshirt steigt vom Beifahrersitz. Er öffnet den Kofferraum, packt einen Rollstuhl und stellt ihn neben den Fahrersitz. „Wir sind da“, kündigt er froh an, als sein Kollege den Motor ausschaltet und sich in den Rollstuhl schwingt.
Der 21-jährige Edi engagiert sich bei „Motivation“, einer der wichtigsten rumänischen Stiftungen für Menschen mit Behinderung. Zusammen mit seinem Kollegen Ghiorghi Filip, der seit einem Unfall vor 20 Jahren querschnittsgelähmt ist, fährt er durch die Dörfer und liefert Rollstühle und andere Geräte, die in der Werkstatt der Stiftung angefertigt oder neu angepasst werden.
Edi eilt zurück zum Kofferraum und holt ein großes, blaues Dreirad mit Einkaufskorb heraus. Eine junge Frau in Jeans kommt aus dem Haus, grüßt kurz und schaut sich das Dreirad an. „Alles in Ordnung, danke noch mal“, sagt sie, als sie das Übergabeprotokoll unterschreibt. „Es ist für ihre Tochter. Sie kann sich nicht so gut bewegen und ist mit dem Dreirad viel mobiler“, erklärt Edi und krempelt die Ärmel seines Shirts wieder hoch.
Die Betten ähnelten kleinen Käfigen
Edi kommt aus einer armen Familie, die rund 100 Kilometer von Bukarest entfernt lebt. Er kam mit einer geistigen Behinderung zur Welt, hat eine Lernschwäche. Seine Familie wollte kurz nach seiner Geburt 1992 nichts mehr von ihm wissen. So landete er bei „Sfanta Ecaterina“, damals eines der größten Kinderheime der Hauptstadt. Es war das Jahr, in dem Michael Jackson zum ersten Mal in Rumänien auftrat und das Heim besuchte, um Geld für einen neuen Spielplatz zu spenden. An den Popstar erinnert sich Edi nicht, aber den Spielplatz erkennt er noch. Fast 900 Waisen lebten zu dem Zeitpunkt in der zentral gelegenen Einrichtung. Die mit Gittern versehenen Betten ähnelten kleinen Käfigen.
Kurz nach dem Fall von Nicolae Ceausescu machten Horrorbilder aus rumänischen Kinderheimen wie dem „Sfanta Ecaterina“ die Runde in den internationalen Medien. Zu einem unverhältnismäßig großen Anteil waren diese Waisen des Staatssozialismus geistig oder körperlich behindert, sie lebten unter unvorstellbaren Bedingungen von physischem Elend und Missbrauch. „Edi war noch zu klein, er weiß nicht mehr, wie schlimm die 1990er Jahre waren“, meint Georghi. Edi sagt nur: „Schön war es nicht.“
Edi hatte Glück
Die damaligen Kinder sind zu jungen Männern und Frauen geworden, die ohne viel Hilfe vom Staat auskommen müssen. Erst Anfang des neuen Jahrtausends hat sich die Situation der Menschen mit Behinderung einigermaßen verbessert, auch die der Waisen. Im Vorfeld des EU-Beitritts Rumäniens wurden viele Kinderheime aufgelöst, viele Stiftungen bauten mit europäischem Geld eine moderne Infrastruktur aus und gaben vielen Waisen ein neues Zuhause.
Im Dorf Cornetu, unweit von seinem Haus, mäht Edi den Rasen. Er hat Glück gehabt: Mit 12 Jahren hat er das Heim verlassen, zusammen mit fünf anderen Kindern zog er 2004 in eines der vier neuen Häuser der Stiftung „Motivation“. „Seit ich hier wohne, fühle ich mich viel besser“, sagt er. Er mag das Brummen des starken Motors. Jede Woche macht Edi Sport. Zusammen mit Mihaela, die im Nachbarhaus wohnt, hat er in den vergangenen Jahren immer wieder an den internationalen Special-Olympics-Spielen teilgenommen – in Frankreich, Griechenland, sogar in den USA. Er schwimmt und fährt gerne Ski. Manchmal begleitet er die Rollstuhlfahrer und spielt mit ihnen Basketball. Eines Tages will er sich ein Auto kaufen.
„Seit fast zehn Jahren versuchen wir, Kindern und jungen Menschen mit Behinderung durch betreutes Wohnen in kleinen Gruppen ein Leben in einem familiären Umfeld zu ermöglichen“, erzählt Anca Beutean, die Managerin der Stiftung. „Das Projekt ist als Dauerlösung gedacht, vorausgesetzt, dass wir es weiter finanzieren können.“ Weil die staatliche Krankenkasse einen Teil der Kosten für die Hilfsmittel übernimmt, kann die Stiftung das betreute Wohnen von Edi und den anderen jungen Menschen aus den Heimen finanzieren.
Einen Job zu finden ist schwer
„Wenn man in die Provinz fährt, findet man bestimmt noch Heime, die noch in den 1990er Jahren stecken“, meint Anca Beutean. „Außerdem hat der rumänische Staat immer noch keine Lösung für junge Menschen, die in den Heimen aufgewachsen sind und die plötzlich 18 werden. Viele leben dann einfach auf der Straße, haben Drogenprobleme oder stecken im Gefängnis oder in einer Psychiatrie“, kritisiert sie.
Edi dagegen hat heute ein soziales Leben jenseits von geschlossenen Einrichtungen. Besonders gern mag er Autos. Doch mit der Suche nach einer richtigen Arbeitsstelle läuft es nicht gut. „Ich habe mehrmals versucht, eine Stelle in einem Waschsalon zu finden, aber bisher hat es nicht geklappt“, erzählt er.
„Für die meisten Arbeitgeber fangen die Probleme schon bei einfachen physischen Behinderungen wie meiner an. Von einem Jungen auch nur mit einer leichten geistigen Behinderung wollen sie gar nichts hören“, stellt Ghiorghi fest. „Dabei ist es doch so: Behindert machen dich die Anderen.“
Edi schiebt Ghiorghis Rollstuhl zurück in den Kofferraum und setzt sich mit einem breiten Lachen auf den Beifahrersitz. Er freut sich sichtlich auf die Weiterfahrt. „Das war die erste Anlieferung für heute“, sagt er, „weiter geht’s!“