Rumänien

Mutter, das Monster

ostpol: Herr Netzer, wie erkären Sie sich den enormen Erfolg rumänischer Filmemacher bei den großen Festivals? Cristian Mungiu, Cristi Puiu, Florin Serban und jetzt Sie haben in Cannes und Berlin in den vergangenen Jahren bedeutende Preise gewonnen.

Calin Peter Netzer: In Rumänien hat sich eine talentierte Generation gebildet, und wir stimulieren uns gegenseitig bei gesunder Konkurrenz. Angefangen bei Cristi Puiu haben wir eine Ästhetik des Realismus geschaffen, bei der wir mit wenig Geld viel sagen. Wir versuchen, so ehrlich wie möglich zu sein, und ich glaube, das spürt der Zuschauer. 

In Ihrem neuen Film beschreiben Sie die pathologische Beziehung zwischen einer übertrieben fürsorglichen Mutter und ihrem neurotischen Sohn. Gleichzeitig zeichnen Sie ein Bild von der Korruption in Rumänien. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Mutter-Sohn-Beziehung und der bestechlichen Gesellschaft in Rumänien?

Netzer: Das Wesentliche für meinen Ko-Drehbuchautor Razvan Radulescu und mich war die Mutter-Sohn-Beziehung, die für uns beide partiell autobiographische Züge hat. Die Rahmenhandlung in der rumänischen Gesellschaft wählten wir aus dramaturgischen Gründen, mit dem Ziel die 30 gemeinsamen Jahre von Mutter und Sohn auf die fünf Tage der Extremsituation zu verdichten, die der beschriebene Autounfall des Sohnes nach sich zieht. Außerdem bot sich Rumänien als Ort der Handlung für mich an, weil ich da seit 1994 lebe und mich mehr als Rumäne fühle, denn als Deutscher.


Calin Peter Netzer, geboren 1975 im rumänischen Petrosani, gehört neben Cristi Puiu und Cristian Mungiu zu einer jungen Generation rumänischer Filmemacher, die international erfolgreich sind. Mit seinen Filmen  „Maria” und „Ehrenmedaille“ gewann er Preise bei den Filmfestivals von Locarno und Thessaloniki. 2013 gelang ihm sein bislang größter Erfolg: Für „Mutter und Sohn” wurde er mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.


Ein wohlhabendes Land wie Deutschland bietet sicher auch oft den Nährboden für die Konstellation, die Sie zeigen: ein Einzelkind, eine reiche Familie und eine dysfunktionale Beziehung der Eltern zueinander. Hätte sich Ihre Geschichte auch hier abspielen können?

Netzer: Ja sicher. Wir erzählen ein Geschehen, das sich in jedem Land der Welt ereignen könnte. In Deutschland würde es mit Sicherheit anders ablaufen, aber die Essenz würde bleiben. Ich glaube, die Macht und Mentalität, die die Mutter im Film hat, hätte Sie in Deutschland nicht in dieser ausgeprägten Form.

Warum genau?

Netzer: Da ist zunächst das korrupte System, in dem die Mutter als Innenarchitektin reüssiert hat, und das ihr in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Form der Machtausübung, die sie zeigt, ist sie gewohnt. Wichtig ist aber auch, dass sie nach eigenem Empfinden jahrzehntelang Opfer gebracht hat. 

Opfer für den beruflichen Erfolg oder im Privatleben?

Netzer: In beiden Bereichen, vor allem aber im Privatleben. Die Mutter, das Monster, das wir sehen, ist ja nicht von heute auf morgen so geworden, sondern über einen langen Zeitraum. Viele Jahre ist sie in einer eigentlich gescheiterten Ehe geblieben – für den Sohn. Für sie war das eine Entschuldigung, sich nicht scheiden zu lassen. Im Westen hätte sie sich wahrscheinlich von ihrem Mann getrennt. Statistisch gesehen gab es während des Kommunismus viel seltener Scheidungen als im Westen. Ich habe das sehr oft von Leuten ihrer Generation gehört, dass sie sich für die Kinder geopfert haben.

Am Anfang des Filmes widersetzt sich die Polizei, die den Sohn festhält, den Einmischungen der Mutter. Doch schon am nächsten Tag sind die Polizisten wesentlich zahmer. Warum siegt bei Ihnen die Korruption dann doch?

Netzer: Die Polizisten sind jünger als die Mutter. Sie gehören einer Generation an, für die die Moral einen höheren Stellenwert hat, und die an den gesellschaftlichen Verhältnissen etwas verändern will. Doch wenn Sie dann Direktiven von oben bekommen, merken sie, dass sie keine echte Chance haben, die Dinge zu verändern.

Das ist immerhin ein kleiner Fortschritt. Was sind die Ursachen dafür?
Netzer: Wir reden heute mehr über prinzipielle Dinge wie die Moral, die EU, den Westen oder wie Dinge gemacht werden sollten. Das beeinflusst die Leute, was aber nicht heißt, dass sie sich von heute auf morgen verändern werden.


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