Borissow wird abtreten – als Sieger
Bulgariens muskulöser Ex-Premier Bojko Borissow ist vom Fernsehbildschirm verschwunden. Dabei hatten wir Bulgaren uns so daran gewöhnt, ihn von morgens bis abends darin zu sehen. Im Frühstücksfernsehen klagte er über sein schweres Schicksal als Premier. Am Nachmittag schoss er Tore in der Sportschau. In den Abendnachrichten eröffnete er Kindergärten und Autobahnabschnitte. Und im Spätprogramm löste er Quizfragen bei „Wer wird Millionär?“.
Plötzlich haben andere Themen Borissow von der Mattscheibe verdrängt: Es ist die Rede von Abhörskandalen und Korruption in den hohen Machtetagen. Nur, Borissow ist dazu nicht mehr zu sprechen. Er will nicht mehr ins Fernsehen. Er mischt sich lieber unters Volk. Seit er nach heftigen Straßenprotesten am 20. Februar zurückgetreten ist, und somit den Weg für vorzeitige Neuwahlen in Bulgarien freigemacht hat, bereist er das Land. Er legt Hunderte Kilometer am Tag zurück, trifft sich mit Tausenden Menschen und unterzeichnet Tausende Flyer, auf denen sein Gesicht zu sehen ist. Bojko Borissow will zurück an die Macht.
Aktuellen Umfragen zufolge ist und bleibt Borissows Regierungspartei Gerb stärkste politische Kraft in Bulgarien. Die Skandale, die sich um ihn und weitere Kabinettsmitglieder ranken, haben zwar einen Teil seiner Stammwähler verunsichert, aber sie sind nicht zur Opposition übergelaufen. So könnte Bojko Borissow bei den Neuwahlen am 12. Mai erneut als Wahlsieger hervorgehen. Seit dem Jahr 2005 wäre das sein achter Wahlerfolg (von den Parlaments- über die Kommunal, Präsidentschafts- bis zu den Europawahlen).
Allein, diesmal hätte Borissow keinen Grund zur Freude.
Ein einsamer Sieger
Selbst wenn seine Partei Gerb als stärkste Kraft aus den Neuwahlen hervorginge, hätte sie keine Chance, eine Regierungsmehrheit zu bilden. Politische Verbündete zu finden, die Borissow an der Spitze dulden, ist so gut wie ausgeschlossen. So paradox es klingt: Ein Sieg Borissows wäre der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere.
Der Auslöser für die vorgezogenen Neuwahlen am 12. Mai war die Protestwelle, die Bulgarien im Februar überrollt hat. Solche Massendemonstrationen hatte es hier seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Sie begannen als Protest gegen die hohen Stromrechnungen, gingen über zur Forderung, die ausländischen Stromkonzerne im Land (die tschechischen CEZ und EnergoPro und die österreichische EVN) zu verstaatlichen und verwandelten sich schließlich in einen Protest gegen das gesamte korrupte politische System Bulgariens. Bereits nach den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei erklärte Bojko Borissow seinen Rücktritt und leitete damit Neuwahlen ein. Seitdem führt eine Übergangsregierung die Staatsgeschäfte.
Die Proteste entstanden größtenteils spontan. Insgeheim wurden sie aber sicherlich von Strukturen unterstützt, die den oppositionellen Sozialisten nahestehen und russische Energie-Interessen in Bulgarien durchsetzen wollen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Proteste wenige Tage nach dem gescheiterten Referendum über den Bau eines zweiten Atomkraftwerks russischen Typs in Bulgarien begannen. Die kleinen nationalistischen Parteien, die besonders aktiv auf die Protestwelle stiegen, sind ebenfalls prorussisch eingestellt.
Der Abhörskandal
Doch genug mit den Verschwörungstheorien! Schließlich war es nicht allein die Opposition, die Borissow den Kopf gekostet hat. Er selbst hat dafür gesorgt, dass die Straße seinen Rücktritt verlangte. Er hat die Demokratie mit Füßen getreten und die kleinen und mittleren Unternehmen zerstört. Er hat dem Staat einen autoritären Regierungsstil aufgedrängt und alle staatlichen Institutionen in reine Machtinstrumente seines politischen Willens verwandelt. Absolut nichts in Bulgarien ging ohne den Segen Borissows vonstatten.
Nun liefert ein abgehörtes Gespräch zwischen ihm, seinem Agrarminister und einem führenden Staatsanwalt die entsprechenden Beweise. Auf der geleakten Aufnahme besprechen die drei, wie sie ein Ermittlungsverfahren gegen den Agrarminister verhindern können. Sie reden darüber, wie sie Geld aus EU-Projekten an Medien verteilt haben, um ihre Berichterstattung zu beeinflussen.
400.000 Bulgaren haben unter der Regierung Borissow ihren Job verloren. Die Arbeitslosenquote liegt bei 12 Prozent – und hat sich damit seit Borissows Amtsantritt 2009 verdoppelt. Hundert Tausende Familienunternehmen sind Pleite gegangen. Überlebt haben nur diejenigen, die Staatsaufträge an Land ziehen konnten – Unternehmen also, die Borissows Partei nahestanden. Bulgariens Mittelklasse stirbt aus. Nichtsdestotrotz brüstet sich Borissow weiterhin damit, dass Bulgariens Staatsdefizit zu den geringsten in der EU zählt. Doch das hat die Menschen nicht reich und glücklich gemacht. Im Gegenteil: Es hat sie wütend gemacht.
Alternativlose Politik
Knapp eine Woche nach dem Rücktritt Borissows kam die Überraschung: Der gestürzte Premier führt in den Wahlumfragen und baut seinen Vorsprung gegenüber der Opposition sogar aus. Die oppositionelle BSP (Bulgarische Sozialistische Partei) hatte sich verzettelt. Sie proklamierte zunächst einen scharfen Linkskurs, ruderte aber schnell wieder zurück. Diese Unentschlossenheit verschreckte viele ihrer potenziellen Wähler. Und so können die Sozialisten bei den Wahlen am kommenden Sonntag nicht auf mehr als 20 Prozent hoffen, was ihre Ambitionen auf einen Wahlsieg unrealistisch erscheinen lässt.
Die meisten Bulgaren sind nicht im Stande, die BSP als Alternative anzuerkennen. Zu frisch ist die Erinnerung an die Korruptionsskandale unter dem sozialistischen Regierungschef Sergej Stanischew (2005-2009). Zu tief sitzt der Frust, dass Brüssel Hunderte Millionen EU-Fonds wegen Korruptionsverdacht einfrieren musste. Alle restlichen Parteien wiederum sind zu klein, um einen Regierungsanspruch zu erheben. Vielen Bulgaren also bleibt erneut nur die Wahl zwischen Borissow (Gerb) und den Sozialisten (BSP). So erklärt sich auch, warum Gerb selbst nach den Protesten stärkste politische Kraft bleibt.
Doch aller Voraussicht nach werden weder Gerb noch BSP, noch eine der anderen Parteien eigenständig in der Lage sein, eine Regierung zu bilden. Wenn er an die Macht zurück will, bleiben Borissow also nur zwei Möglichkeiten: Entweder er sichert sich über 50 Prozent der Sitze im neuen Parlament oder er bildet eine Koalition – in der er nicht mehr Ministerpräsident sein wird. Die erste Möglichkeit ist unwahrscheinlich. Darum sollten sich die Bulgaren schon einmal darauf einstellen, dass sie auch in Zukunft ohne Bojko Borissow auf ihren Fernsehbildschirmen leben müssen.