Russland

Ein Schmunzeln aus Bronze

Man muss schon die Ruhe weg haben, um in diesem Chaos lesen zu können. Kreischend reißen U-Bahn-Waggons ihre Türen auf, speien Menschenströme auf den Bahnsteig, schlucken neue Massen und hetzen dem nächsten Ziel entgegen. „Achtung!“, gellt eine scheppernde Lautsprecherstimme durch den Saal. „Die Türen schließen! Nächster Halt Arbatskaja.“ Keine fünfzehn Sekunden vergehen zwischen An- und Abfahrt, keine zwei Minuten später steht der nächste Zug auf dem Gleis. Spontan entstehende Menschenkarawanen schlängeln sich durch die anbrandenden Massen der Umsteigenden und zerstreuen sich genau so schnell, wie sie zusammengefunden haben. Wer im Weg steht, ist selbst schuld: Im Moskauer U-Bahn-Gedrängel sitzen die Ellbogen locker. Bis zu neun Millionen Menschen schieben sich täglich durch die unterirdischen Gänge der Metro, mehr als in London und New York zusammen.
Mittendrin in all dem Gerenne, links und rechts unter einem der marmornen Torbögen, ein lesendes Paar: ein junger Mann und eine junge Frau, beide hübsch, beide ein Buch auf den Knien. Jenseits ihrer Lektüre endet ihre Welt. Sie nehmen einander nicht wahr, sie nehmen die vorbeihastenden Moskauer nicht wahr. Selbst für den Wandel der Zeiten sind sie blind. Denn eigentlich ist die Ära dieser beiden Lesenden längst abgelaufen: Sie sind Teil eines sowjetischen Ensembles überlebensgroßer Kupferstatuen, die die Torbögen der Metrostation „Platz der Revolution“ säumen. Helden der Revolution, Helden der Arbeit.
Und vor allem Helden der Muße. Muss man aus Bronze gemacht sein, um sich so sehr in ein Buch vertiefen zu können? Muss man nicht. Zu Füßen des lesenden Sowjet-Pärchens, verteilt über die gesamte Länge des Bahnsteigs, sieht man lesende Moskauer aus Fleisch und Blut, die in stiller Imitation des entrückten Bronze-Paares das Gedrängel auf dem Bahnsteig ignorieren. An die Wand gelehnt, mit übereinander gefalteten Zeitungen. Auf Bänken, mit dicken, gebundenen Büchern. Wer sich in Moskau verabredet, der trifft sich w zentrje sala, in der Mitte des Bahnsteigs, und die Wartezeit wird mit Literatur überbrückt. Auch in den Zügen halten deutlich mehr Menschen ein Buch oder eine Zeitung in der Hand als in Deutschland, und sogar auf den Rolltreppen wird gelesen. In den dreißiger Jahren sollten die innerstädtischen U-Bahn-Schächte gleichzeitig als Luftschutzbunker dienen und wurden entsprechend tief unter der Erde angesiedelt. Die Rolltreppenfahrt zum „Platz der Revolution“ dauert gut zwei Minuten – je nach Lesetempo und Anspruch schafft man dabei locker zwei bis vier Buchseiten.
„Eine Freundin von mir verdient in ihrem neuen Job so viel Geld, dass sie sich jeden Morgen ein Taxi zur Arbeit gönnt, um besser lesen zu können. Das machen jetzt viele Leute. Rausgeschmissenes Geld, wenn Du mich fragst. Als ob man im Stehen nicht lesen könnte.“ Dascha jedenfalls kann es. Ihren Wollmantel hat sie über den rechten Arm geschlagen, in der linken Hand balanciert sie einen kolossalen Wälzer: Puschkin, Gesammelte Werke, Band IV. Zwei Minuten russische Klassik auf der Rolltreppe, lohnt sich das? „Ich kann überhaupt nicht U-Bahn fahren, ohne zu lesen, ich würde mich viel zu sehr über die ganzen drängelnden Idioten ärgern. Das ist der Vorteil, wenn man liest: Du kriegst den ganzen alltäglichen Mist nicht mit.“
Literatur als Flucht aus der Welt, das klassische Lesermodell. Stimmt, sagt Dascha – sie scheint etwas ähnliches gedacht zu haben. Dann blättert sie eine Weile in ihrem Puschkin, auf der Suche nach einer Stelle, in der sie sich wiedererkannt haben will. Und beginnt schließlich, auf Russisch aus „Eugen Onegin“ vorzulesen, eine Passage, in der von der weiblichen Hauptfigur Tatjana die Rede ist: „Wie jetzt Romane sie beglücken / Wie eifrig sie nun liest und liest / Mit immer steigendem Entzücken / Der holden Täuschung Reiz genießt. / Sie malt sich aus, die Heroine / Der Lieblingsdichtungen zu sein / Durchstreift mit ihrem Buch allein / Den stillen Wald, um dort zu träumen / Was sie bekümmert, im Geheimen / Es spiegelt ihr das Buch zurück.“
Man trifft diesen Typ des Lesers oft in Russland. Menschen, die sich in Büchern verlieren. Die einem bei der ersten Begegnung erklären, wie nahe sie sich Fürst Myschkin aus Dostojewskis „Idiot“ fühlen, oder wie sie durch Tolstoi zur Religion gefunden haben. Es mag einem westlichen Klischee entsprechen, aber auf viele Russen trifft noch immer jenes Diktum zu, das Lion Feuchtwanger 1937 bei einer Moskau-Reise notierte: „Für den Leser der Sowjetunion scheint keine Grenze zu laufen zwischen seiner Wirklichkeit und der Welt seiner Bücher. Er beschäftigt sich mit den Menschen seiner Bücher wie mit solchen seiner wirklichen Umgebung, streitet sich mit ihnen herum, kanzelt sie ab, sieht Realität in den Geschehnissen eines Buches und in seinen Menschen.“
Dascha klappt ihren Puschkin zu und verabschiedet sich, sie muss umsteigen. „Wenn Du willst, kann ich Dir das Büchlein mal leihen.“ Statt kniga sagt sie knischka – die Verniedlichungsform des russischen Wortes für Buch. „Na ja, Puschkin ist so ein wuchtiger Name, und kniga ist ein wuchtiges Wort. Beides zusammen wäre einfach zuviel.“
Puschkin. Mindestens so wuchtig wie sein Name thront der russische Dichterfürst über Moskaus größter Einkaufsstraße, der Twerskaja Ulitsa. Wer sich in Moskau nicht w zentrje sala verabredet, der trifft sich u pamjatnika Puschkina: beim Puschkin-Denkmal. Ein denkwürdiger Anblick ist das: Rund um die überdimensionierte Bronzestatue warten zahllose Moskauer auf ihre Verabredungen – und lesen. Die meisten kehren Puschkin den Rücken und damit die Innenseite ihrer Bücher zu, der Poet kann sozusagen seinen Nachfolgern in die Karten gucken. Ob er zufrieden ist mit all dem Geschreibsel, das ihm im Laufe der Jahre unter die Augen gekommen ist? „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, sagt Jelena Petrowna, eine der Wartenden „Sehen Sie sich doch mal an, was die Leute hier lesen: amerikanischen Schund. Liebesschnulzen, Revolvergeschichten, Hauptsache, es kommt aus dem Westen. Ich hoffe bei Gott, dass Puschkin das nicht miterleben muss.“
Diesen Typ Leser trifft man auch oft in Russland. Diejenigen, die ohne nachzudenken sämtliche russischen Nobelpreisträger runterrasseln können. Die auf Puschkin schwören und auf Dostojewski, auf Tolstoi, Gogol und Tschechow, vielleicht noch auf Bulgakow, seltener auf Nabokov. Schund aus Amerika kommt ihnen nicht in die Finger. Puschkin hätte das sicher lustig gefunden. In „Pique Dame“ gibt es eine Szene, in der eine affektierte Hofdame ihren Neffen bittet, ihr Romane mitzubringen. Auf die Frage, ob es russische sein sollen, entgegnet sie überrascht: „Gibt es denn russische Romane?“ Zu Puschkins Zeiten las man am Zarenhof ausschließlich Französisch. Für affektierte Hofdamen von heute scheint es dagegen nichts anderes zu geben als russische Romane.
Das Buch, das Jelena Petrowna hinter ihrem Rücken zu verstecken versucht, trägt den Titel „The Life and Times of Fyodor Dostoevski“. Eine englischsprachige Biographie. Jelena fühlt sich ertappt. „Ja, ich lerne zur Zeit Englisch. Mein Arbeitgeber meint, das sei nötig.“ Warum liest sie nicht eine Shakespeare-Biographie? Oder einfach Shakespeare? „Es ist schon schwierig genug für mich, auf Englisch zu lesen. Bei Dostojewski kenne ich mich wenigstens aus.“ Man glaubt, ein Schmunzeln auf Puschkins bronzenen Lippen zu sehen.
Dann verschwindet Jelena Petrowna in der Moskauer Nacht, geleitet vom starken Arm eines bärtigen Kavaliers, der ganz bestimmt seinen Puschkin gelesen hat. Rund um das Denkmal stehen jetzt junge Leute, die meisten mit Bierflaschen in der Hand. Bücher sieht man nur noch wenige, es wird auch langsam zu dunkel zum Lesen.
Nur einer der Wartenden starrt unbeirrt auf das Buch in seiner Hand. Wobei Buch in diesem Fall nicht das richtige Wort ist. Findet Wasja auch, er spricht lieber von seinem „book“, und bei ihm klingt das wie „buhk“, dunkel und kehlig. Bei dem undefinierbaren Objekt handelt es sich um eines jener Geräte, die in Westeuropa eine Fußnote der Unterhaltungselektronik geblieben sind, während sie unter jungen Russen gerade erst richtig in Mode kommen: ein eBook, ein Computerbildschirm im Taschenbuchformat. „Bücher sind primitiv“, sagt Wasja. Es klingt wie ein Witz, aber er verzieht keine Miene dabei. „Bücher sind viel zu schwer, du kannst sie nicht im Dunkeln lesen und du musst dir ständig neue kaufen. Auf meinem book sind mehr als zwei Millionen Druckseiten gespeichert, und ich kann damit lesen, wo ich will, wann ich will, und was ich will.“
Dieser Typ des russischen Lesers ist verhältnismäßig neu. Zwar hat Lion Feuchtwanger schon 1937 konstatiert, dass man sich „vom Lesehunger des Sowjetmenschen schwerlich eine Vorstellung machen“ könne, und dass in der Sowjetunion „Bücher verschlungen werden, ohne dass der Appetit auch nur im geringsten nachließe.“ Aber an jemanden wie Wasja hat er dabei sicher nicht gedacht. Um die Generation der jungen russischen Bücherfresser literarisch einzuordnen, wird man eher bei Gogol fündig. In „Tote Seelen“ heißt es über den Diener Petruschka: „Er hatte einen edlen Hang zum Lesen von Büchern, um deren Inhalt er sich allerdings wenig kümmerte – hätte man ihm ein Lehrbuch der Chemie untergeschoben, so hätte er auch das nicht abgelehnt. Ihm gefiel nicht, was er las, sondern das Lesen selbst, besser gesagt, der Prozess des Lesens: Dass nämlich aus diesen Buchstaben immerfort irgendein Wort entstand, von dem manchmal der Teufel selbst nicht wusste, was es bedeutete.“


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