Gefangen in der freien Welt
„Wofür sperrt man uns ein?“, empört sich Masoum K. „Dafür, dass wir vor dem Krieg geflüchtet sind?“ Seit drei Monaten teilt er sich mit seinen Mitflüchtlingen Motasem M. und Ahmed J. eine Zelle im Flüchtlingsgefängnis von Nyirbator im Nordosten Ungarns. Es ist das größte Flüchtlingsgefängnis des ganzen Landes.
Hier warten die drei Syrer wie die anderen Insassen in Nyirbator, ausschließlich Männer, die Abschiebung. „Bewachte Unterkunft“ heißt das im Behördenjargon. Zum Zeitpunkt des Besuches sind es knapp 100 Personen, vor allem aus dem Kosovo, Pakistan und Afghanistan. In den Hochzeiten sind es weit über 200, die in zwei Gebäudekomplexen untergebracht sind. „Im Winter ist die Zahl immer geringer“, sagt Istvan Racz.
Der Polizeihauptmann mit dem gepflegten Kinnbart und dem freundlichen Gesicht ist Leiter der Einrichtung. Wie die anderen Abschiebehaftzentren in Ungarn wird auch das Gefängnis in Nyirbator von der ungarischen Polizei betrieben. Nur die offenen Flüchtlingslager unterstehen der Einwanderungsbehörde.
Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung
Nyirbator liegt im äußersten Osten des Landes unweit der Grenzen zur Ukraine. Es ist die ärmste Region des Landes. Selbst für die knapp 13.400 Einwohner ist Nyirbator ein Ort mit wenig Hoffnung und Perspektive. Das Gefängnis, gesichert mit Mauern und Stacheldraht, liegt am Rande des Stadtzentrums. Die Zellen bieten Platz für drei bis fünf Personen. „Jeder hat sein eigenes Bett“, betont Hauptmann Istvan Racz, der von den Insassen „Big Chief“ genannt wird. Dusche, WC oder selbst ein Waschbecken gibt es in den Zellen nicht, an deren Wänden unzählige Flüchtlinge schriftlich ihre Spuren hinterlassen haben.
Laut einem gemeinsamen Bericht von „Pro Asyl“ und bordermonitoring.eu sind rechtswidrige Inhaftierungen und eklatante Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge in Ungarn an der Tagesordnung. Flüchtlinge, heißt es in dem Bericht, werden systematisch in gefängnisartigen Lagern inhaftiert, Familien mit Kindern bis zu 30 Tage festgehalten. Ehemals inhaftierte Flüchtlinge berichteten über Zwangsabreichungen von Medikamenten und schweren körperlichen Misshandlungen.
Nicht zuletzt aus diesem Grund haben in jüngerer Vergangenheit verschiedene deutsche Verwaltungsgerichte, etwa in Magdeburg und Stuttgart, die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ungarn untersagt – selbst wenn das Land nach der Dublin-II-Regelung Ungarn für die Anträge zuständig wäre. Das Verfahren besagt unter anderem, dass der Mitgliedsstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, in dem der Flüchtling als erstes eingereist ist.
Man bemüht sich um Offenheit
„Es obliegt den nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat, zu überstellen, wenn dort systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen bekannt sind“, sagt Ulrike Zeitler, Richterin am Verwaltungsgericht Stuttgart.
Dazu gehöre auch die begründete Annahme, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. „Vorläufig kann man sagen, dass diese Fälle signifikant ab Mitte 2011zugenommen haben – hauptsächlich die ‚Italien-Fälle’“, hat Zeitler beobachtet. Eine Prognose für die Zukunft sei jedoch offen.
Im Flüchtlingsgefängnis von Nyirbator, über das auch Berichte von Misshandlungen an die Öffentlichkeit gelangten, bemüht man sich um Offenheit. Besichtigung der Einrichtung, Führung durch die Fitnessräume, die Gebetsräume, den Speisesaal, das Internetzimmer, das Sozialarbeiterbüro, die Gefängnisarztpraxis, Gespräche mit den Insassen – alles kein Problem.
Der Tag in der „Bewachten Unterkunft“ beginnt um 6.30 Uhr. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, von 9 bis 11.30 Uhr sowie von 14 bis 17 Uhr können die Insassen an die frische Luft, zwei Basketballplätze stehen zur Verfügung. Ansonsten verbringen sie die meiste Zeit des Tages in ihren Zellen. Arztsprechstunde ist täglich von 10 bis 12 Uhr, nach vorheriger Anmeldung. Probleme gebe es kaum.
Aussage gegen Aussage
Beim Ungarischen Helsinki Komitee mit Sitz in Budapest sieht man das anders. Gabor Gyulai, beim Komitee Programmleiter für Flüchtlingsangelegenheiten, gibt zwar zu, dass sich seit den Berichten die Bedingungen in den ungarischen Flüchtlingsgefängnissen leicht gebessert haben. Trotzdem bestünden noch zahlreiche Probleme. „Zu viele sind im Gefängnis für zu lange Zeit“, fasst Gyulai zusammen. Zu den weiteten Kritikpunkten zähle vor allem die mangelnde Ausbildung der Wärter.
Neben offiziellen Polizisten übernehmen bewaffnete Wärter die Aufsicht in den Einrichtungen. „Das ist in jedem Fall eine problematische Sache, denn die sind nicht auf diese Aufgabe vorbereitet, sind voreingenommen und latent rassistisch eingestellt“, meint Julia Ivan, Rechtsberaterin beim Helsinki Komitee. Auch die ärztliche Versorgung sieht das Helsinki Komitee kritisch.
„Die Ärzte sprechen keine Fremdsprachen, die Patienten können höchstens 'Küchen-Englisch' und können nicht sagen, was ihnen fehlt“, sagt Julia Ivan. „Stattdessen werden sie unter anderem mit Beruhigungsmitteln behandelt.“ Die Behauptung von „Big Chief“ Istvan Racz, die meisten könnten schon Ungarisch sprechen, bezeichnet sie schlichtweg als „Quatsch“.
Über die Haftbedingungen beschwert sich der syrische Flüchtling Masoum K. nicht. Als einziger auf seiner Zelle im Flüchtlingsgefängnis von Nyirbator spricht er ein passables Englisch. „Es gibt keine Probleme“, meint er. Nur die Tatsache der Haft an sich ist für ihn unverständlich. Seit drei Monaten sind die drei Syrer bereits in Nyirbator untergebracht. Vorher, erzählt Masoum, waren sie bereits drei Monate in Bulgarien inhaftiert. Was sie bei einer Abschiebung dort erwartet, macht sein Zellennachbar Ahmed mit einer geballten Faust und einer Schlagbewegung deutlich.
Das ungarische Dilemma
Seit dem Amtsantritt der Regierung Orban 2010 wurde das ungarische Asylrecht massiv verschärft. Bis April 2010 gab es vier Abschiebhaftzentren in Ungarn, bis zum Juli desselben Jahres wurden elf weitere über das ganze Land verteilt geöffnet, neun davon waren ehemalige Gefängnisse, die seit Jahren nicht in Betrieb waren. Oft erfuhr die örtliche Polizei selbst nur ein oder zwei Tage vorher davon, dass ein temporäres Gefängnis geöffnet werden sollte. Mit denen wurde die Flüchtlingskapazität des Landes von 282 auf knapp 700 erweitert.
„Als Außengrenze des Schengen-Raumes stehen wir unter einem riesigen Druck der EU“, sagt eine Pressesprecherin des Flüchtlingsgefängnisses in Nyirbator. „Ungarn ist ein Transitland und die Flüchtlinge wollen weiter in den Westen – dort aber will man sie nicht“, macht sie das ungarische Dilemma deutlich. Für Gabor Gyulai vom Helsinki Komitee ist das höchstens eine schlechte Ausrede. Bei einer Einwohnerzahl von 10 Millionen und 2.000 bis 3.000 Asylsuchenden sowie 100 anerkannten Flüchtlingen pro Jahr könne man kaum von einer Überforderung sprechen.
„Die Strukturen sind schlecht und Gerichte in solchen kleinen Orten wie etwa Nyirbator haben keinerlei Erfahrungen mit der Abschiebehaft“, ergänzt Julia Ivan. Einige wenige Richter entscheiden jährlich über tausende von Fällen aller Art. „Es ist kein Wunder, wenn dann in einzelnen Fällen innerhalb von Minuten entschieden wird, auch dann nicht, wenn der Europäische Gerichtshof später feststellen sollte, dass die Haft unrechtmäßig war.“