Schule der Dissidenten
Jeden Morgen treffen sich Arsen Buraukin und Alisa Migal vor dem Hauptbahnhof in Minsk. Mit dem Zug fahren sie in ein Dorf am Stadtrand, laufen an Schrebergärten und Datschen vorbei und machen vor einem Backsteinhaus halt. Schnell verschwinden die beiden durch das Gartentor. Hinter dem Zaun verbirgt sich das Belarussische Humanistische Lyzeum. Eine Schule, die vor zehn Jahren vom Lukaschenko-Regime geschlossen wurde. Seitdem findet der Unterricht inoffiziell statt. Ein umgebautes Einfamilienhaus dient als Unterschlupf, im Wohnzimmer stehen Schulbänke, die Küche hält als Lehrerzimmer her. Im Unterricht lernen die Schüler, was Freiheit bedeutet.
Es ist neun Uhr morgens, in dem dreigeschossigen Haus herrscht Trubel. 60 Jungen und Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren verteilen sich in sieben Klassenräumen. Arsen und Alisa hängen ihre Jacken in die Garderobe neben dem Eingang. Dann laufen sie ins Wohnzimmer, packen Schreibsachen und Bücher aus. Zehn Schulbänke haben in dem Zimmer Platz, für die Tafel musste der Fernseher seinen Platz räumen.
Lehrbücher aus dem Selbstverlag
„Die Schüler lernen bei uns in freier Atmosphäre“, sagt Wladimir Kolas, Direktor des Gymnasiums. Der 62-Jährige sitzt an einem Tisch in der Küche. Kolas ist Filmemacher und gehört in Belarus zu den bekanntesten Oppositionellen. Gemeinsam mit anderen Intellektuellen gründete er 1991 das Gymnasium. „Wir wollten eine Schule ohne kommunistische Propaganda.“ Weil es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine neutralen Lehrbücher gab, schrieben die Lehrer die Bücher selbst.
Nachdem Alexander Lukaschenko 1994 das Präsidentenamt übernommen hatte, geriet die Schule ins Visier des Staats. Der sogenannte „letzte Diktator Europas“ lässt Kritiker immer wieder ins Gefängnis sperren, Demonstranten niederknüppeln und Wahlen fälschen. 2003 wurde die Schule, die damals im Zentrum von Minsk lag, vom Bildungsminister geschlossen. „Wir haben dann im Untergrund weiter gemacht“, erzählt Kolas. Anfangs hätten sich Lehrer und Schüler in Kellern und Wohnungen getroffen. Später habe die Schulleitung das Einfamilienhaus gefunden, dessen Miete die Eltern der Schüler finanzieren.
Vererbte Opposition
Die Behörden wüssten über die Schule Bescheid, sagt Kolas. Schließen könnten sie das Gymnasium aber nicht, weil das Haus privat gemietet sei. Zudem sei der Schulbesuch nicht strafbar. Kolas vermutet, dass Schüler und Lehrer dennoch vom Geheimdienst KGB überwacht werden. Einmal, erinnert er sich, habe vor dem Haus mehrere Tage ein Lieferwagen mit seltsamen Antennen geparkt.
Nach der ersten Stunde laufen die Schüler raus in den Garten, ein hoher Zaun schützt das Anwesen vor neugierigen Blicken. Arsen lernt hier, weil er an staatlichen Schulen Nachteile befürchtet. „Wegen meines Nachnamens habe ich in Belarus keine Chance“, sagt der 16-Jährige. Sein Großvater ist ein bekannter Dichter, der wegen kritischer Bücher beim Regime in Ungnade gefallen ist. Deshalb will der Junge nach dem Abitur zu seiner Tante in die USA auswandern. Auch Mikita Hanets, 16, drohen Repressionen. Er saß bereits im vergangenen Jahr eine Woche im Gefängnis, weil er an einer Protestaktion gegen Lukaschenko teilgenommen hatte.
Diskussion und Meinungsfreiheit gehen in der Schule mit intensivem Unterricht einher. Chemie, Mathe, Biologie und Physik stehen ebenso auf dem Stundenplan wie an staatlichen Schulen. Allerdings laufen Fächer wie Geschichte und Literatur nicht nach staatlichem Lehrplan ab, erklärt Direktor Kolas. „Unsere Schüler lernen auch Gedichte von Schriftstellern, deren Bücher das Regime verboten hat.“ So auch die Werke Sergej Zakonnikows oder Wladimir Nekljajews, die in den Augen der Regierung als Nationalisten gelten. In Geschichte gehe es nicht um die sowjetische, sondern die belarussische Vergangenheit, ergänzt Kolas. Der Pädagoge nimmt ein 120 Seiten dickes Lehrbuch in die Hand mit dem Titel „Mensch, Gesellschaft, Staat“. Das Buch verherrliche die Sowjetunion, glorifiziere den Präsidenten Lukaschenko und sei an staatlichen Schulen Pflichtlektüre. „So etwas gibt es bei uns nicht“, sagt der Direktor.
Land ohne Landessprache
In einem schmalen Raum in der zweiten Etage steht Natalia Aliaksandrawa vor der Tafel. „Wir unterrichten ausschließlich in belarussischer Sprache“, sagt die 28-jährige Englischlehrerin. In Belarus sprechen nur zwölf Prozent der Menschen die Landessprache – Russisch dominiert den Alltag. Zwar ist Belarussisch neben Russisch Amtssprache. Doch das sei nur Fassade, meint die Lehrerin. „Auch Zeitungen, Radio und Fernsehen erscheinen in Russisch“, sagt die 15-jährige Alisa. In staatlichen Schulen werde nur auf Russisch unterrichtet und Belarussisch wie eine Fremdsprache behandelt, ergänzt das Mädchen. „Ich gehe aufs Lyzeum, weil ich nicht in Russisch lernen will“, fügt Alisa hinzu.
Nach der 11. Klasse legen Arsen und Alisa die Abiprüfung auf dem Gymnasium ab, der Staat erkennt den Abschluss jedoch nicht an. Weil die Gesetze Privatunterricht erlauben, können die Schüler die „richtige“ Prüfung vor einer Kommission nachholen. Nach dem Abitur beginnen die meisten Schüler ein Studium, polnische Universitäten vergeben sogar Stipendien an die Absolventen. Ihrem Land den Rücken kehren, wollen sie trotz allem nicht. „Wenn ich könnte, würde ich meinem Land später helfen“, sagt Arsen. Alisa wünscht sich, „dass in Zukunft Belarussisch wieder echte Landessprache wird“.